Es blieb nur ein rotes Segel
ein sehr kurzer Weg sein wieder hinaus, wenn du versagst! Glaube nur an dich, du hast alles, mein Kind, was Gott dir nur schenken konnte, um neben den Sternen zu leuchten.«
Und Matilda war ganz langsam und feierlich in das Zimmer gegangen und hatte gebetet: Gott, verlaß mich jetzt nicht, Gott, laß mich stark genug sein!
Dann hatte sie sich zum erstenmal vor den eigenen großen Spiegel gesetzt, in einen breiten Barocksessel, hatte sich im Spiegel angestarrt und gesehen, wie die Garderobiere mit einem Knicks ins Zimmer trat und sie begrüßte, als sei sie schon ›die‹ Felixowna.
Tamara Jegorowna lehnte neben der Tür und hatte Tränen in den Augen. Das erschütterte sie so, daß sie keinen Atem mehr bekam.
Sie weint, dachte Matilda beklommen, Mütterchen Tamara weint vor Glück. Sie weint meinetwegen … Die große gefürchtete Jegorowna weint.
Dann waren die Bühnenproben gekommen, der brüllende Passukow, die lähmende Erkenntnis: Du kannst ja nichts. Du kannst gar nichts! Du hüpfst nur dumm herum, wirklich, du bist eine Kröte! Und dann Passukows Raunzen: »Ganz gut, Matilda! Noch mal den Pas de deux mit Jefim! Nicht deinetwegen, Matilda, wegen dem Jefim, dem lahmen Lümmel! Der läuft ja über die Bühne, als suche er einen Platz zum Austreten! Und das soll ein Prinz sein!«
Morgen! Die Premiere in der Kaiserlichen Oper! Am 23. Dezember 1893! Der Untergang eines Traumes.
Das große Lachen über Matilda Felixowna …
Sie stand noch immer allein auf der Bühne, die Hände vor der Brust gekreuzt, und starrte in den leeren dunklen Zuschauerraum. Die Sitzreihen glotzten sie an wie feindliche Augen, wie Fabelwesen, die sie fressen wollten.
Und morgen abend saß hier die große Welt von St. Petersburg – und oben, in der Zarenloge, saß der Zar Alexander III. mit seiner Familie …
Mit Nikolai Alexandrowitsch, dem Zarewitsch, der ihr jeden Tag durch seinen Papagei sagen ließ: Ich warte auf dich … Ich bin immer bei dir …
Woher soll man die Kraft nehmen, gütiger Gott, das zu überstehen!
Schon vier Stunden vor der festlichen Premiere war Matilda in der Oper. Sie saß allein in ihrer Solistengarderobe vor dem großen Spiegel und starrte sich mit zitternden Augen an. Noch war niemand da, keine Frisöse, keine Garderobiere, kein Inspizient, keine Kollegin. Nur die Bühnenarbeiter arbeiteten noch an den Kulissen, bauten auf, strichen einige Kulissenteile nach, besserten aus, hingen einige Soffitten um, weil der Bühnenbildner, der bekannte Kunstmaler Valentin Dragnowitsch Pluchjanin eine neue Idee hatte.
Man kannte das – er änderte jeden Tag seine Bühnenbilder, war nie zufrieden, hatte immer neue Einfälle – und es war zu erwarten, daß jede Aufführung anders aussehen würde, wenn man ihn gewähren ließe. Nachher, wenn Passukow kam, flog der Kunstmaler sowieso von der Bühne, aber solange er allein hier war, mußte man seinen Schreiereien gehorchen.
In den Villen und Palais, den Herrenhäusern und Gütern von und um St. Petersburg schminkten sich jetzt die Damen, hielten die Zofen die wertvollen Abendroben bereit, schimmerte in den Schatullen der unschätzbar wertvolle Schmuck oder wurden die seltenen Pelze gebürstet. Die Herren zogen ihre Galauniformen oder die Fräcke an, sie kontrollierten den Sitz ihrer Orden, ließen sich von ihren Kammerdienern noch einmal die Barthaare stutzen und drehten sich, nicht anders als ihre Frauen, eitel vor den Spiegeln und besprühten sich mit französischen Parfüms.
Die Premiere der Kaiserlichen Oper am Vorweihnachtstag war neben dem Silvesterball im Winterpalais von jeher ein Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens. Dann waren sie alle versammelt, die Großfürsten und Großfürstinnen aus dem Hause Romanow, die Fürsten der alten Geschlechter, die jeder kannte, von Trubetzkoj bis Jussupow, von Orlow bis Potemkin, von Menschikow bis Scheremetjew. Und die Reichsten der Reichen kamen: vom sagenhaften Stroganow bis zum scheuen Woronzow, von dem niemand wußte, was ihm eigentlich an Ländereien diesseits und jenseits des Urals gehörte. Wie konnte man das auch ermessen? Sibirien war so unendlich groß, daß alle Maßstäbe versagten. Was heißt das schon: Ihm gehört Land am Ussuri? Der Ussuri war die Grenze zu China … da hört alles Nachdenken auf.
Und die berühmten Generäle waren da, die Botschafter der anderen Staaten, das Diplomatische Corps, die großen Gelehrten, der Staatsrat, auserwählte Künstler, vielleicht sogar Prinzen und Prinzessinnen
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