Es blieb nur ein rotes Segel
erster öffnete, warf einen Blick hinein, verdrehte die Augen und fiel in Ohnmacht. Nicht viel anders reagierten zwei Stubenmädchen und eine dicke Waschfrau, die zufällig in der Nähe des schwachnervigen Lakaien standen.
Erst der Haushofmeister des Fürsten, ein ausgedienter Feldwebel, besaß den nötigen Schneid, die Blechschachtel zu seinem Herrn zu bringen.
Kramskoj betrachtete den Inhalt der Schachtel, erkannte natürlich sofort die Fälschung und begann schallend und schrill zu lachen. Minutenlang lachte er, mit jagendem Atem und hervorquellenden Augen. Er saß in einem Sessel, trommelte mit den Beinen auf den Teppich und hustete am Ende so heftig, daß ihm der Schleim über das Kinn rann.
Von diesem Morgen an beobachtete man eine Veränderung im Wesen des Fürsten Kramskoj. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß ihn ein schleichender Wahnsinn befallen haben mußte – aber niemand wagte es, diesen Verdacht auszusprechen.
Man berichtete – nur mit Schaudern – dem Fürsten Jussupow, daß Kramskojs Lieblingshund, ein Dobermann von riesiger Größe, den Inhalt der ominösen Blechschachtel im Beisein des Fürsten aufgefressen habe. Kramskoj habe wieder schaurig gelacht, als zwischen den Zähnen des Hundes die Knochen zerknackten.
Das war Grund genug, Jussupow von neuem an seinen Betstuhl zu treiben.
Die letzten Proben waren vorüber.
Das Corps de ballet der Kaiserlichen Oper lief in seine Garderobe. Der Regisseur der Aufführung ›Dornröschen‹, der gefürchtete Leonid Iwanowitsch Passukow, von dem gesagt wurde, er habe einmal bei einer Generalprobe aus Wut und in Ekstase seine seidene Krawatte aufgegessen, saß in der vierten Reihe des Parketts und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er nahm einen Schluck Wasser aus einer Kristallkaraffe, die auf seinem Regiepult stand, und streckte die Beine weit von sich.
Oben auf der Bühne, in der Dekoration und noch beschienen von den Scheinwerfern, stand allein und klein nur noch Matilda Felixowna und strich sich ihr Kostüm als Aurora glatt.
Ihr Blick irrte hilfesuchend in die Seitenkulisse. Dort stand Tamara Jegorowna, aber sie rührte sich nicht.
»Na also!« sagte der gefürchtete Passukow – und das war viel.
Er hatte heute weder seinen Schlips verzehrt, noch war er aufgesprungen und hatte gebrüllt: »Was sehe ich denn da? Was sehe ich denn? Nur hüpfende Kröten! Gebt mir einen Knüppel! Ich muß einen Knüppel haben! Ich muß diese Kröten erschlagen – alle, ohne Ausnahme!«
»Na also!« sagte der wilde Mann heute. »Das war ja ganz gut, Matilda. Am Schluß hättest du den Hintern etwas mehr einziehen sollen, aber das ist Ansichtssache und geht zu Lasten von Tamara Jegorowna. Wenn du morgen bei der Premiere auch so tanzt, haue ich dir eine Rose um die Ohren! Ende der Generalprobe! Das Orchester hat gespielt wie eine Horde von Bettnässern! Ja, das gilt Ihnen, Arkadji Mironowitsch. Sie haben dirigiert, als wollten Sie Mücken fangen! Danken Sie Gott, daß Tschaikowsky tot ist! Aber auch Leichenschändung ist strafbar! Keine Widerworte, Arkadji! Morgen, nach der Premiere, sprechen wir uns wieder!«
Die Lichter erloschen bis auf die normale Probenbeleuchtung. Passukow verließ den Zuschauerraum. Matilda stand noch immer bewegungslos allein auf der großen Bühne, betäubt von dem seltenen Lob.
Seit sechs Tagen wußte sie, daß sie der jahrelangen Mütterlichkeit von Tamara Jegorowna entwachsen war.
Es hatte damit begonnen, daß die Jegorowna sie mit wahrer Feierlichkeit in die Oper geführt hatte, die sie von ihren Elevinnenauftritten ja kannte. Statt in die allgemeine Ballettgarderobe führte Tamara sie in einen anderen Gang und öffnete eines der geheiligten Solistenzimmer.
Wer hier einzog, wessen Kostüm hier auf dem Bügel hing, wessen Gesicht hier von der Maskenbildnerin geschminkt wurde, der hatte es erreicht: Die Welt stand offen! Jetzt mußte man sie aus eigener Kraft, mit eigenem Können erobern!
»Deine Garderobe!« sagte die Jegorowna, und ihre Stimme schwankte ein wenig vor Rührung. Sie erinnerte sich an die Stunde in ihrem Leben, als sie zum erstenmal ihr Solistenzimmer betrat und ›die Jegorowna‹ wurde.
Heute war sie sich sicher, daß auch Matilda ab morgen abend ›die Felixowna‹ sein würde, der neue Stern am Balletthimmel St. Petersburgs und damit der Welt.
»Tritt ein, Matilda«, sagte Tamara Jegorowna leise. »Tritt ganz langsam ein und bete dabei. Es ist ein langer Weg gewesen – hier hinein, aber es kann
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