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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Bühnenkünstler ein Teil der Hölle, besonders bei Premieren.
    Das Anziehen des Kostüms, das Schminken, die Reden der Menschen, die einen betreuen, zerstreuen noch ein wenig das verdammte Gefühl, gleich gevierteilt zu werden. Aber wenn das alles erledigt ist, wenn Kostüme und Maske stimmen, dann kommt das Warten … Die Minuten rinnen wie Stunden, die Geräusche, die man sonst kaum wahrnimmt, quellen auf wie Donnertöne, es zuckt in den Gliedern, am Herzen, in den Därmen … Man möchte den Inspizienten ermorden, der ab und zu erscheint und durch die Türritze ruft: »Noch zwanzig Minuten!« – »Noch zehn Minuten!« – »Gleich auf die Bühne …« Und man kann kaum noch gehen, wenn es heißt: »Auf die Bühne! Viel Glück! Toi-toi-toi …«
    Und man hört durch die offene Tür die Ouvertüre. Die Vorstellung hat begonnen, unwiderruflich, und man weiß ganz sicher: Jetzt kannst du nicht mehr zurück! Nur der Tod kann dich noch retten! Du mußt hinaus in die unbarmherzig grellen Scheinwerfer, vor die tausend festlich gestimmten und zu allem bereiten Scharfrichter – vor das Publikum!
    Es gab berühmte Sänger, die in diesem Augenblick, in der Seitenkulisse stehend und auf ihren Auftritt wartend, am ganzen Leib zitterten, von Schweiß überströmt waren und ihre Stimme verloren hatten. Es gab große Schauspieler, die kein Wort ihrer Rolle mehr kannten, deren Hirn plötzlich leer war. Und es gab große Tänzerinnen und Tänzer, die lahm wurden und keine Zehe mehr bewegen konnten. Kurz, es war der Augenblick, in dem man sich selbst abgrundtief haßte.
    Matilda Felixowna stand links neben dem Pult des ersten Inspizienten und starrte das bereits tanzende Corps de ballet an. Hinter ihr stand Tamara Jegorowna und massierte ihr mit kaum drückenden Fingern den Hals und die Schultern. Es war mehr ein Streicheln, eine mütterliche Geste der Beruhigung. Noch vor zehn Minuten hatte sie gesagt: »Denk daran, Matilda, daß du gar nichts falsch machen kannst! Denk an die große Fanny Elßler. Als sie – 1859 hier in St. Petersburg – in ›Giselle‹ einen falschen Schritt machte und ihr Lehrer sie in der Pause deswegen ansprach, sagte sie erstaunt: ›Was wollen Sie, Monsieur? Es war kein falscher, es war ein neuer Schritt! Er fiel mir gerade ein!‹ – Was du auch tust, Matilda, heute abend wirst du alle besiegen!«
    Dabei war die Jegorowna aufgeregter als Matilda. Ihnen gegenüber, auf der anderen Bühnenseite, stand der berühmte Enrico Cecchetti in der Kulisse, einer der ganz großen Lehrer der Kaiserlich-russischen Ballettschule, der seit 1887 in St. Petersburg war und als einer der blendendsten Tänzer seiner Epoche galt. Er tanzte heute, im Einvernehmen der Jegorowna und als Hilfe für Matilda, seine Lieblingsrolle – den ›Carabosse‹ in Dornröschen.
    Auch der mit allen Ballettwassern gewaschene Cecchetti war unruhig, auch er wurde von Lampenfieber geschüttelt. Man erkannte es daran, daß er seinen Kopf kreisen ließ, als habe er einen völlig versteiften Nacken. Seine Beinhaltung war für einen Tänzer grotesk, denn er stand da wie ein X-beiniger Kutscher, plump und lahm. Aber nachher, wenn er auf die Bühne springen würde, dann würde ein Raunen durch die Zuschauer gehen, denn noch nie hatte man eine solche Schwerelosigkeit gesehen …
    »Gleich!« flüsterte die Jegorowna Matilda ins linke Ohr. Matilda nickte. Ihre Muskeln strafften sich. Ihr Körper wurde angestaute Musik, die sich in Bewegung befreien mußte. Ganz kalt war es in ihr, kein Brennen, keine Angst, kein Wunsch zu sterben. Die Musik trug sie bereits fort in das Leben des bunten Märchens, das sie in wenigen Sekunden tanzen würde.
    »Jetzt!« sagte die Jegorowna leise. Ihre Stimme war heiser vor Erregung. Zehn ihrer Jahre schickte sie jetzt auf die Bühne. Zehn Jahre Tränen und Schweiß, zehn Jahre harte Schule, zehn Jahre Entbehrungen …
    »Jetzt!« Sie biß sich auf die Unterlippe und hielt dabei den Atem an.
    Wie eine Feder, wie eine Schneeflocke im leisen Wind schwebte Matilda Felixowna auf die Bühne. Das Licht erfaßte sie … eine Gestalt wie aus einem Traum.
    Passukow, der neben dem im Lampenfieber zitternden Cecchetti stand, starrte dem fliegenden Körper nach und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    »Welch ein Auftritt!« stammelte er leise. »Gott im Himmel, welch ein Schritt! Sie ist ja gefährlich … sie wird alle anderen Tänzerinnen mit ihrer Grazie hinmorden! Daß ich so etwas erleben darf …«
    Die Jegorowna

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