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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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aus befreundeten Ländern … St. Petersburg zeigte zu einer solchen Premiere den ganzen Zauberglanz des geheimnisvollen Rußland: Unfaßbarer Reichtum in einem Land, das zum größten Teil noch unerforscht, ja unbetreten war.
    Rosalia Antonowna hatte natürlich keine Eintrittskarte bekommen, obgleich sie die Mutter Matildas war. Auch die Jegorowna und sogar der Zwerg Mustin hatten vergeblich versucht, die Bondarewa ins Theater zu bekommen. Auch der mächtige Ballettchef des kaiserlichen Balletts, der schon zu Lebzeiten legendäre Tänzer und Choreograph Marius Petipa war machtlos, ebenso wie der Solotänzer und zweite Ballettmeister Lew Iwanowitsch Iwanow, der zuletzt in der vergangenen Saison 1892 Tschaikowskys ›Nußknacker‹ in einer aufsehenerregenden Regie herausgebracht hatte. Sie alle sagten das gleiche: »Man müßte 5.000 Plätze haben in der Oper, selbst die reichten nicht aus! Wie kann Rosalia Antonowna eine Karte bekommen, wenn wir Fürsten abweisen müssen?«
    »Es ist ja gut so!« jammerte die Bondarewa, schlug immer wieder das Kreuz und weinte, während ihr Busen mächtig wogte. »Laßt mich nur hier! Ich würde sterben, ja, sterben würde ich, wenn ich zusehen müßte, wie mein Täubchen stolpert und alle die Hochwohlgeborenen über Matilda lachen! Der Schlag würde mich treffen, auf der Stelle, vom Sitz würde ich fallen, und ihr hättet nur die Mühe, mich wegzutragen. Nein, laßt mich hier! Ich werde beten für mein Kindchen und eine dicke Kerze anzünden! Bemüht euch nicht länger! Was bin ich denn schon? Bin ja nur die Mutter, nur eine arme Frau! Mich würde der Glanz blenden, ganz gewiß, ich würde blind werden! Wenn ich die Zarin sehen müßte, setzte mir das Herz aus! Ist schon recht, daß es für eine Mutter keine Karte gibt – wenn die Vöglein flügge werden, hoppelt die Alte immer hinterher …«
    Dann weinte sie wieder, es klang alles sehr traurig, bis ausgerechnet der gefürchtete Passukow eine geniale Lösung fand: Man reihte Rosalia Antonowna in die Komparserie ein! Sie wurde in ein Kostüm gezwängt und stellte eine Bauersfrau dar, was ihr ja auf den Leib geschrieben war. Sie mußte mit einem Korb voll Obst auf der großen Bühne herumstehen und konnte so ganz aus der Nähe ihr Töchterchen und das Corps de ballet in voller Aktion sehen.
    Hätte man diese Lösung lieber nicht gefunden!
    Wenn man Passukow später darauf ansprach, rollte er wild mit den Augen, spuckte gegen die Wand und sagte dumpf: »Ich lasse mich nie wieder von den Tränen einer Mutter rühren. Eher kastriere ich mich!« Wer Passukow kennt, der konnte ermessen, was diese letzte Drohung für ihn bedeutete. Die Erschütterung mußte ungeheuer groß gewesen sein.
    Es begann damit, daß Rosalia Antonowna in der Statistengarderobe, eine Stunde vor der Premiere, zu den anderen Frauen sagte: »Glotzt mich nicht so dämlich an, ihr schieläugigen Rebhühner! Ich bin die Mutter der neuen Ballerina! Matilda Felixowna – den Namen müßt ihr euch merken! Den Namen müßt ihr mit jedem Brei in euch hineinfressen! Die Welt wird ihr zu Füßen liegen!«
    Als man lachte, da sie in das Bäuerinnenkostüm kaum ihre riesigen Brüste hineinzwängen konnte, schrie sie: »Seht euch selbst im Spiegel an! Wackelt da herum mit euren fetten Hintern, und der Bauch hängt bis zu den Knien! Ich kann mich sehen lassen, jawohl! Wenn ich mich ausziehe, dann brüllen die Männer auf wie die Stiere!«
    Als man weiterlachte, mehr noch als zuvor, hieb sie vor Zorn mit einem Stuhl um sich, drosch und fegte die Garderobe leer und schlug dem ersten Inspizienten, den man um Hilfe gerufen hatte, ein Loch in den Schädel. Als ganz unmöglich erwies es sich, sie aus dem Theater zu entfernen und nach Hause zu schicken.
    Sie setzte sich in eine Ecke der Garderobe, war dort hingepflanzt wie ein Felsbrocken und sagte böse: »Wer wagt es, mich anzurühren? Kommt nur mit zehn Polizisten! Kommt nur! Mein Schwiegersohn ist der Freund des Zarewitsch, in der Loge wird er neben ihm sitzen! Und meine Tochter ist der Star des heutigen Abends. Kommt nur, ihr Gesindel! Tragt mich weg! Aber polstert vorher eure Hohlköpfe!«
    Schließlich kapitulierte man; ein Sprecher der Statisterie entschuldigte sich bei Rosalia Antonowna, und sie verzieh allen gnädig. Sie war nicht nachtragend, das war sie nie gewesen. Wo wäre sie sonst hingekommen und wo gelandet? In ihrem Leben war Vergessen ein Grundelement, sozusagen.
    Die Zeit bis zum Auftritt ist für jeden

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