Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
kriegen.
Wenn im Kapitalismus die Einhaltung der Verkehrsregeln elektronisch überwacht wird, was eigentlich eine vollautomatisch betriebene Abzocke ist, war es im Sozialismus ein sportliches Wettrennen um zehn Rubel, bei dem nicht auf die Abzeichen geschaut wurde. Der Schnellste gewann.
Das Hauptproblem und die größte Gefahr für die Raser war sowieso nicht die Polizei, sondern die immer fehlenden Ersatzteile. An ihnen ist der Sozialismus letztendlich gescheitert. Aber erst einmal versuchte die Bevölkerung, das Problem selbst in die Hand zu nehmen. Ende der Achtzigerjahre, als im Kreml schon Gorbatschow saß, aber privates Business
noch immer verboten war, entstand in Moskau ein regelmäßiger Nachtbasar für Autoersatzteile, ein schwarzer Markt von der Größe eines ganzen Bezirks. Wer ihn organisiert hatte und wie es gelungen war, eine solche kapitalistische Aktivität direkt vor der Nase des Staates dauerhaft zu etablieren, ist bis heute nicht geklärt.
Dieser Markt befand sich auf dem Moskauer Ring, an der Hochgeschwindigkeitsstraße, aber jede Nacht an einem anderen Abschnitt. Der Markt wanderte um Moskau herum. Der Ring hatte damals nur zwei Spuren und einen breiten neutralen Streifen in der Mitte. Links und rechts der Straße sowie in der Mitte standen die Wagen der Verkäufer. Die Wagen der Käufer fuhren im Schneckentempo in beiden Richtungen mit brennenden Scheinwerfern an ihnen vorbei und suchten sich die Teile, die sie brauchten. Die Polizei reagierte gemäßigt: Wenn sie auftauchte, fuhr der ganze Markt zehn Kilometer weiter und machte dort wieder auf. Es wurde nie jemand verhaftet. Jeder Autofahrer in der Stadt wusste Bescheid, wo sich der Markt gerade befand – und das ganz ohne Internet und ohne Mobiltelefone: eine herausragende Leistung.
Mein Freund Andrej kaufte dort für seinen Moskwitsch namens Banane Ersatzteile, die nicht direkt
vom Autowerk kamen, sondern von irgendwelchen begabten Tüftler und Bastlern hergestellt worden waren. Die Autoteile dieser selbstständigen Mechaniker hielten länger und waren aus besserem Material. Mancher dieser heimlichen Meister errang einen Ruhm, der weit über die Grenzen Moskaus hinausging: Es gab Leute, die extra aus Moldawien anreisten, um endlich ein richtiges Getriebe für ihren Lada zu finden. So bastelte sich im entwickelten Sozialismus das Volk seine Autos selbst zurecht.
Die Perestroika und die ihr nachfolgende Demokratie westlicher Prägung hat unglaublich viel Schrott aus der ganzen Welt in den Osten gespült. Aus Japan, Amerika und Europa wurde alles, was mehr als zwei Räder hatte, nach Russland zum Verkauf abgeschoben. Und die tollen sowjetischen Autofahrer, die angeblich so viel Ahnung hatten und sich unter jeder Haube bestens auskannten, wurden ohne Ende übers Ohr gehauen. Sie kauften den letzten Schrott, wenn darauf »Opel«, »Ford« oder »BMW« stand. Nach siebzig Jahren Fußgängerleben ging es dem postsowjetischen Mensch lange Zeit nicht in den Kopf, dass man anderswo für die Verschrottung seines Autos mehr als für seine Anschaffung zahlen musste.
Der Zoll kostete anfangs nichts, und so wurde der Verkehr auf den Straßen zunehmend dichter – dank
alter Autos aus dem Westen, die noch schneller als die einheimischen kaputtgingen. Die ausländischen Autos fühlten sich in Russland unwohl. Besonders bei den »Japanerinnen«, wie sie liebevoll vom Volk genannt wurden, gingen schon bei minus fünfzehn Grad reihenweise die Alarmanlagen los. Das Autogeheul stieg in den Himmel. »Auch die Autos haben Heimweh«, witzelten die Leute. In den darauffolgenden fünfzehn kapitalistischen Jahren entstand dessen ungeachtet ein riesiges Parkplatzproblem in Moskau. Denn nichts kaufen die Russen lieber als schnelle Autos, obwohl sie keinen Platz mehr zum Rasen haben. Ironie des Schicksals: Früher fehlte dem Raser das richtige Auto, heute die freie Straße. Die ganze Stadt ist zu einem einzigen Raserstau geworden.
Der Moskauer Bürgermeister bemüht sich ständig, diese Situation zu verbessern. Er lässt neue Hochgeschwindigkeitsstraßen bauen und neue Ringe um Moskau anlegen, wofür er sich bereits vor Jahren den hübschen Spitznamen »Herr der Ringe« eingehandelt hat. Doch seine Mühe hat bis jetzt nicht viel gebracht. Seine neueste Vision geht dahin, eine Magistrale über die Dächer der Moskauer Hochhäuser zu bauen für eine Art dreidimensionalen Verkehr wie in dem berühmten Fantasy-Film Das fünfte Element . Bis es so weit ist, muss der
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