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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Vorwärtskommen war gar nicht zu denken. Und alle Blumen, die ich erreichen konnte, waren entweder von Insekten besetzt oder rochen so widerlich, dass ich Kopfschmerzen bekam. Ich wachte aus diesen Träumen immer mit einem Muskelkater auf.
    Fast alle Kinder in meiner Jugend hatten Albträume und die Erwachsenen auch. Die Traumdeutung war daher eine eigene Industrie, eine Wissenschaft mit eigenen Adepten, Königen und Narren. Die Grundregeln der Traumdeutung beherrschte allerdings jeder Bürger. Er wusste, dass Kakerlaken Umzug bedeuteten, dass Spinnen wichtige Nachrichten signalisierten, Schweine oder Kühe dagegen positive Veränderungen im Privatleben; Meerjungfrauen und ausgefallene Zähne standen für einen nahen Tod.
Eine Schlange deutete auf eine Falle hin, ein Fisch auf unerwartete Schwangerschaft, das Pferd stand für irgendeinen Betrug.
    Der Staat wusste von der Schlafanfälligkeit seiner Bürger und versuchte, mithilfe ausgefallener Arbeitszeiten ihre Gewohnheiten zu kontrollieren. Die Kinder gingen in zwei Schichten zur Schule: Um acht Uhr fand die sogenannte Nachtigallenschicht statt und um vierzehn Uhr die Eulenschicht. Die Erwachsenen arbeiteten zumeist in drei Schichten abwechselnd, einmal früh, einmal spät und einmal nachts. Manche Berufe, die eine erhöhte Wachsamkeit erforderten oder/und gesundheitsschädigend waren wie zum Beispiel Polizist, Feuerwehrmann, Arzt, Kosmonaut, Löwenbändiger und so weiter wurden in einer noch komplizierteren Zeiteinteilung ausgeübt: sechsunddreißig durch sechs, zwölf nach vierundzwanzig oder zwei nach acht. Der Ehemann meiner Cousine, der bei einem Rettungsnotdienst in Moskau tätig ist, arbeitet noch heute nach einem solchen Plan: sechsunddreißig nach zweiundsiebzig. Das bedeutet, dass er zwei Tage lang Menschen rettet, und dann drei Tage im Bett liegt und fernsieht.
    Ich hatte in der Armee als Funker bei der Raketenabwehr den Schichtdienst zwölf über zwölf. Das hieß zwölf Stunden im Bunker, zwölf im Bett. Ein
damals weit verbreitetes Sprichwort lautete: »Der Soldat schläft, sein Dienst läuft.« Es waren bloß siebenhundertdreißig Tage, die wir abzuleisten hatten und die vergingen in der Armee schnell, besonders wenn man vierundzwanzig Stunden am Tag pennte. Wachposten mussten ihren Dienst im Stehen schieben, woraufhin sie lernten auch im Stehen zu schlafen, angelehnt an ihre Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett. Dabei liefen sie jedoch Gefahr, sich beim Einschlafen selbst aufzuspießen.
    Am besten hatten es die Soldaten vom Geheimtelegraf. Sie hatten einen Geheimraum, der nur vom Verteidigungsminister persönlich betreten werden durfte. Doch der Verteidigungsminister schlief anderswo, und unsere Telegrafisten verließen ihren Geheimraum nur zum Essen. Die Funker konnten im Sitzen schlafen, mit dem Kopf auf dem Tisch. Man musste allerdings etwas auf die Tischplatte legen, damit man im Falle einer plötzlichen Kontrolle kein geschwollenes Gesicht hatte. Der Kopf des Funkers wurde daher immer besonders sorgfältig geprüft. Ein Kollege von mir hatte einmal aus Versehen seine Militärmütze als Unterlage zum Schlafen benutzt und prompt bei seiner Ablösung einen Stern auf der Stirn, umkränzt von zwei Kanonen und der Kokarde der Raketenabwehr. Nach diesem Vorfall wurden wir von
unserem Vorgesetzen Major Sadikow noch strenger kontrolliert.
    Ich selbst lernte beim »Geradesitzen« zu schlafen, indem ich mich mit meinem Gürtel am Stuhl festband und Lämmchen zählte. Alle Lämmchen waren kurz geschoren, sie trugen Stiefel und Schnurrbärte. Und jedes zehnte hatte die Abzeichen eines Majors der sowjetischen Raketenabwehr.

Menschen des vorigen Jahrhunderts
    Das Schönste und Spannendste an jedem Gesellschaftssystem ist, dass es früher oder später zusammenbricht. So habe ich es in Russland erlebt. Alles, was gestern noch unantastbar und für die Ewigkeit zu sein schien, fängt plötzlich an zu wackeln. Politiker widersprechen sich selbst, dann kommt eines Tages Schwanensee statt der Abendschau im Fernsehen , und das ganze Land steht Kopf. Millionen werden aus der Bahn geworfen, alles, was man früher für einen sicheren Erfolgsweg hielt – Bildung, guter Arbeitsplatz, die Zugehörigkeit zur »richtigen« Partei –, zählt nicht mehr. Die Uhren des Erfolgs werden wieder auf null gestellt.

    Solche Zeiten polarisieren die Bevölkerung. Die einen sehen darin die Apokalypse, die anderen einen euphorischen Neuanfang. Eine solche Phase hält aber in der Regel

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