Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Russe, »der das schnelle Fahren
liebt«, im Stau stehen. Aber auch dort ist er als Raser nicht zu übersehen. Er dreht sein Autoradio ständig rauf und runter, blitzt chaotisch mit Vorder- und Rücklichtern, drückt bei jedem Anlass und auch ohne auf die Hupe – und er schnallt sich niemals an. Keine Chance haben hier staufreundliche Erfindungen wie die im Staumekka Bangkok: Autominiklos, in die man hinterm Steuer wartend pinkeln kann – mit einem Adapter für weibliche Fahrer –, und ein Stau-Radiosender, dem man per Handy seine Staugedichte schicken kann, die dann auch sofort gesendet werden. Der Russe rast lieber im Stand – und rastet dabei aus.
Schlafen im vorigen Jahrhundert
Aus der Sicht der Wissenschaft ist Zeit eine Abstraktion. Jeder kann die Zeit seines Lebens manipulieren und nach Belieben beschleunigen oder bremsen. Das einfachste Mittel für diese Steuerung ist der Schlaf. Die Zeit vergeht schneller, wenn man pennt. Deswegen haben Tiere, die Winterschlaf halten, Bären oder Igel, weniger Stress und leben länger als Wölfe und Hasen, die sich den Winter nicht ersparen. Im harten Überlebenskampf gehen sie an ihre Grenzen und müssen täglich um ihr Leben fürchten, während die Igel und Bären süß vor sich hin träumen. Wenn sie aufwachen, ist es wieder Frühling. Auch in der Wüste
und in der Meerestiefe gibt es viele Lebewesen, die in einer Stresssituation auf der Stelle einschlafen – wenn sie zum Beispiel auf einen stärkeren Gegner treffen oder zu wenig Nahrung vorfinden.
Ich kenne etliche solcher Lebewesen in Berlin. Ein Kollege schläft immer unbewusst ein, wenn seine Exfrau die Kneipe betritt. Mehrere Male war ich Zeuge, wie Menschen, die vergessen hatten, eine Fahrkarte zu kaufen, und später vergaßen, dass sie es vergessen hatten, in Winterschlaf fielen, sobald sich ihnen ein Kontrolleur näherte. Ein Klassenkamerad meines Sohnes, der unter Kopfschmerzen leidet, hat die Fähigkeit, sogar während des Unterrichts, innerhalb von Sekunden einzuschlafen, wenn seine Migräne einsetzt – eine natürliche Schutzreaktion des Körpers, um die Schmerzen auszublenden. Mein Sohn schläft manchmal ebenfalls in der Schule ein, bei Rechenaufgaben zum Beispiel – auch eine natürliche Schutzreaktion des Körpers, in diesem Fall gegen Mathematik.
Ich wurde als Kind ebenfalls leicht schläfrig. Im Kindergarten schlief ich ein, wenn ich merkte, dass jemand mit meinem Plastikpanzer spielen wollte. Später, in der Schule, entwickelte sich der Schlaf zu einer Art Dissidententum, einem stillen Protest gegen die vorherrschende Ordnung. Wir schliefen also regelmäßig bei den unentbehrlichen Politinformationen
wie »Staatskunde« und »Bürgerliche Verteidigung«. Und unsere Eltern lernten, mit offenen Augen und einem lebendigen Gesichtsausdruck auf Parteiversammlungen oder im Büro zu schlafen. Die Regierung machte damals gleichfalls keinen besonders wachen Eindruck. Der damalige Generalsekretär stand während seiner eigenen Auftritte stets kurz davor einzunicken.
Weil man tagsüber oft und gerne pennte, hatten viele abends Schwierigkeiten beim Einschlafen. Schlaftabletten waren sehr verbreitet, am besten aber trank man sich mit einer guten Flasche Wein in den Schlaf, oder man las ein dickes Buch. Als Kind schloss ich im Bett die Augen und zählte Lämmchen, die über einen Zaun sprangen. Immer nach hundert musste man sich kräftig am Ohrläppchen ziehen. Diese unkonventionelle Methode hatte mir meine Mutter beigebracht, die ihr Leben lang Lämmchen zählte und sich an den Läppchen zog, so wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte und diese wieder von ihrer und so weiter und so fort.
Die vererbte Lebenserfahrung ließ mich vermuten, dass unsere Vorfahren wahrscheinlich als Schafhirten gearbeitet und ihre Herde irgendwann im Laufe des Mittelalters verschlafen hatten. Aus den entsprungenen Lämmchen entwickelten sich zwei Albträume
bei meinen Vorfahren, die mich durch meine ganze Kindheit verfolgten. In dem einen Albtraum war ich ein stark behaartes Eichhörnchen, das nach einem Baum zum Wohnen suchte, es waren jedoch alle von Lämmchen besetzt, die dort eigentlich gar nichts zu suchen hatten. Im anderen Albtraum war ich mit Flügeln ausgestattet, die mir, gemessen an meinem Körpergewicht, deutlich zu klein waren. Ich flog auf der Suche nach einer Blume umher und musste die ganze Zeit unglaublich heftig mit den Flügeln schlagen, nur um mich in der Luft halten zu können. An ein
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