Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Geschwindigkeit durch Russland. Wobei der Gogol die Kutsche mit ganz Russland gleichsetzt.
»O meine Heimat, wohin rast Du? Gib mir eine Antwort!, rufe ich. Doch die Heimat schweigt!«, schrieb er 1840. Hundertfünfzig Jahre später mussten wir über diesen Vergleich leise schmunzeln. Denn das uns bekannte Russland ähnelte am allerwenigsten einer wild dahinrasenden Kutsche. Die Zeit der Pferdestärken war lange vorbei und die Zeit der Pkw noch nicht wirklich gekommen.
Verkehrstechnisch war Russland in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ein Fußgängerparadies. Selbst in Moskau konnte man an jeder Kreuzung mit geschlossenen Augen bei Rot über die Straße gehen. Die Chance, überfahren zu werden, war nicht
größer, als ein Auto im Lotto zu gewinnen. Der billigste sowjetische Pkw kostete so viel, wie ein Ingenieur in drei Jahren verdiente. Und die Lebenserwartung im Sozialismus war niedriger als in Afrika. Es gab kaum eine gesetzliche Möglichkeit, so viel Geld innerhalb einer solchen kurzen Lebenszeit zu verdienen, abgesehen von drei Ausnahmen.
Die erste Ausnahme war das »Sportlotto«. Wer von neunundvierzig Zahlen sechs richtig erriet, bekam ein Auto. Die zweite Ausnahme war ein Fünfjahresvertrag zur Eroberung Sibiriens mit Zielsparbuch. Wer diesen Vertrag abschloss, musste fünf Jahre lang auf den Baustellen der längsten Eisenbahnstrecke der Welt ackern, der Baikal-Amur-Magistrale, kurz BAM. Dafür bekam er nach der Beendigung der Frist eine Wohnung oder ein Auto. Drittens konnte ein Autoliebhaber eine Parteikarriere starten. Mit etwas Glück würde er dann irgendwann einen schwarzen Wolga-Dienstwagen mit eigenem Fahrer zugeteilt bekommen. Man konnte notfalls auch eine reiche KGB-Witwe heiraten oder die Tochter eines Mitglieds des Politbüros. Doch diese Wege waren ausgesprochen schwierig und gehörten eher in den Bereich der Theorie.
Die normale sowjetische Praxis sah anders aus: Um im Lotto zu gewinnen, brauchte man jede Menge Glück, beim Bau der Baikal-Amur-Magistrale fror
einem schnell die Nase ab, und die reichen KGB-Witwen liefen einem auch nicht jeden Tag über den Weg. Deswegen bildeten die Autofahrer in der Sowjetunion eine eigene Kaste. Es waren geheimnisvolle Leute, die, jeder auf seine Art, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatten und deswegen zur Strafe dem Neid und der Schadenfreude ihren autolosen Nachbarn ausgesetzt waren. Ihr Leben gestaltete sich wesentlich komplizierter als das der Fußgänger. Im Alltag mussten Autofahrer eine Stunde früher aufstehen als Fußgänger, um ihre Ladas und Moskwitschs für die Fahrt vorzubereiten. Am Wochenende, wenn die ganze zivilisierte Welt zu Hause vor dem Fernseher saß, mit Freunden in der Sauna abhing oder mit anderen zusammen ins Kino ging, lagen die Autofahrer unter ihren Fahrzeugen und schraubten. Die Wochenenden in der Garage zu verbringen, gehörte zu ihrem Lebensstil – mehr als das Fahren selbst. Sowjetischen Automarken teilten sich nämlich anderes als ihre Brüder im Westen nicht in neu und gebraucht oder intakt und kaputt. Sie besaßen die Fähigkeit, alles gleichzeitig zu sein. Neu gekauft waren sie schon gebraucht, nie ganz intakt, aber gleichzeitig gingen sie auch niemals völlig kaputt. Und jeder Fahrer war natürlich sein eigener Automechaniker der Extraklasse.
Heute ist ein Auto zu fahren nicht viel komplizierter als Straßenbahn oder Fahrrad fahren, jedes Kind kann das. Die Autos sind mit Elektronik gespickt, und kaum ein Fahrer weiß mehr, was unter seiner Haube vor sich geht. Früher im Sozialismus war das Fahren eine Herausforderung, eine Prüfung fürs Leben. Jemand, der im Sozialismus ein Auto fahren konnte, wäre auch in der Lage gewesen, ein Flugzeug zu steuern oder ein U-Boot zu lenken.
Es gab nur einen einzigen Vorteil, den der sozialistische Fahrer seinem westlichen Kollegen gegenüber besaß: Es gab im Osten nie ein Parkproblem. In unserem Hochhaus in Moskau wohnten achtzig Familien, und auf dem Hof standen drei Autos – in Garagen. Eines davon, ein rosaroter Moskwitsch, gehörte meinem Freund Andrej, einem für sowjetische Verhältnisse untypisch jungen Autofahrer. Offiziell gehörte der Wagen seinem Großvater, einem Kriegsveteranen, der viele Orden besaß, unter anderem die höchste Auszeichnung der UdSSR: einen Stern, der ihn als Helden der Sowjetunion auswies. Für Veteranen gab es Autos ermäßigt, man musste aber lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Andrejs Großvater hatte sich wahrscheinlich
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