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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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fröhlich sowjetische Schlager: »Fliegt, Täubchen, fliegt« und
»Maiglöckchen« und witzelte im Radio, die Erde wäre doch nicht rund, sondern quadratisch und würde auf einer Schildkröte stehen.
    Er kam noch am gleichen Tag zurück und wurde prompt zu einer Legende. Nach ihm wurden Straßen, Schulen und ganze Städte benannt, seine Fotos wurden an allen Ecken als Souvenirs verkauft, er blickte einen von überallher an, er war allgegenwärtig. Eine Proktologin erzählte mir, wie sehr sie einmal erschrak, als sie einem mit akuten Enddarmschmerzen eingelieferten Patienten mithilfe eines proktologischen Vergrößerungsglases in den Anus schaute und dort Gagarin in Paradeuniform erblickte. Er lächelte und winkte ihr aus dem Hintern des Patienten zu. Schuld daran war eine kleine grüne Rakete aus Plastik mit einem Gagarin-Dia in der Mitte, die als Souvenir sehr beliebt war; in fast jedem Haushalt stand sie auf einem Regal. Sie war wie geschaffen für Leute, die sich gerne irgendwelche Dinge in den Arsch steckten. Die Rakete hatte unten einen kleinen Ring und wenn der abbrach, konnte nur noch ein Arzt Gagarin retten. Er war wirklich überall.
    Mein persönlicher Favorit unter den Flughelden war jedoch Graf Dracula. Dieser Gagarin Rumäniens wurde zwar erst durch die Romane von Bram Stoker weltberühmt, hat aber die Sitten und Traditionen Rumäniens
weitgehend geprägt. Anders als die Biene Maja, Gagarin oder Superman flog Dracula nur nachts. Er hatte kein Interesse an Honig, Weltraumforschung oder an der Rettung der Menschheit. Während die anderen Helden in wichtigem Auftrag um die Erde flogen, wollte der Graf bloß auf die Schnelle etwas trinken und essen, was bei ihm auf dasselbe hinauslief. Tagsüber schlief er, nachts zog er sich schick an und flog aus. Diesen Lebensstil haben die Rumänen beinahe komplett übernommen und gehen bis heute stets erst nachts essen.
    Meine Frau lernte übrigens Anfang der Neunzigerjahre in Berlin einen Nachkommen des Grafen Dracula kennen – nicht des Zelluloidgrafen aus dem Film, sondern von dessen realem Vorbild, dem Souverän Vlad Tepesch, der später in der Weltliteratur als Graf Dracula bekannt wurde. Sein Urenkel hatte einen Doppelnamen und trug lange schwarze Haare, die den Boden fegten, wenn er sich bückte. Tagsüber schlief er, nachts zog er durch die Berliner Bars. Der junge Dracula kämpfte damals schon seit Jahren vor Gericht, um sein Familienschloss aus den gierigen Händen der Disneyland AG zu reißen. Er lebte mit zwei Frauen zusammen und spielte Heavy Metal in einer ungarischen Band.
    Heute sind Flughelden bei weitem nicht mehr so
populär. Wir haben verstanden, dass ein Ortswechsel nicht zwangsläufig Glück bringt. Es gibt nur eine Welt, nur einen Globus, und wo wir auch hingehen, sind wir dazu verdammt, außer unserem Gepäck auch noch uns selbst überall mit hinzuschleppen, mit allen Ängsten, Macken und Gefühlslagen. Da bringt ein Ortswechsel wirklich nicht viel. Besser wird es, wenn man ein wenig über sich selbst hinauswächst. Wenn man aufhört, sich nur für sich selbst zu interessieren und die Augen und Ohren freimacht für das Fremde um uns herum. Das Andere, das tausendmal spannender, geheimnisvoller, abenteuerlicher und unterhaltsamer ist als das Eigene. Man muss lernen, die Kokosnuss zu mögen.

Die rasenden Russen
    »Welcher Russe mag das schnelle Fahren nicht?« Die darauf folgende pathetische Abhandlung in dem Roman Tote Seelen des russischen Schriftstellers Nikolai Gogol mussten wir als Kinder in der Schule auswendig lernen. Der Schriftsteller verglich darin den Geist Russlands mit einer rasenden Pferdekutsche, die ohne Ziel und Zweck die Schneewüste in Richtung Horizont durchquert.
    Wie kam diese anarchistische Sichtweise in unser sowjetisches Schulprogramm? Offiziell galt doch, dass die Große Oktoberrevolution Russland ein klares Ziel vorgegeben hatte: den Aufbau des Sozialismus.
Gogol wollte in seinem Werk angeblich bloß die ungerechten Lebensbedingungen unter der Monarchie geißeln. Der Held des Romans, ein Angeber, zieht durch die russischen Dörfer und kauft den ahnungslosen Gutsbesitzern ihre vor kurzem verstorbenen, aber noch als lebend geführten Bauern für ein paar Groschen ab, um diese »tote Seelen« bei einer Kreditbank als Sicherheit zu hinterlegen. Die ganze Sache muss schnell über die Bühne gehen, bevor die Bank oder die Behörden Wind davon bekommen, deswegen rast der Held in seiner Pferdekutsche mit so hoher

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