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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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bereits 1945, sofort nach Ende des zweiten Weltkrieges, in der Warteschlange für Autos angemeldet. Die Jahrzehnte rasten vorüber, und
er hatte seinen Autotraum längst vergessen, als er kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag plötzlich einen Anruf bekam: Er solle bitte den ihm zugeteilten Wagen abholen.
    »Kommen Sie am Freitag um neun Uhr früh in unsere Filiale Nr. 108, und vergessen Sie die zwölftausend Rubel nicht!«, sagte eine freundliche Frauenstimme am Telefon zu ihm.
    Der Anruf kam zu spät, Andrejs Opa war zu alt zum Autofahren, und der Wagen, ein Moskwitsch, für die Familie viel zu teuer. Zwölftausend Rubel waren eine Menge Geld und in vier Tagen nicht zu beschaffen. Der Enkel aber war überwältigt von dem Gedanken, einen Wagen zu besitzen. Eine solche nahezu beispiellose Steigerung der Lebensqualität würde ihm beim Mädchenkennenlernen völlig neue Perspektiven eröffnen. Er diskutierte dasThema gründlich mit seinem Opa aus, bekam von ihm eine Vollmacht und sein Erspartes dazu, plünderte das familieneigene Sparschwein, borgte Geld bei allen, die er kannte, und fand noch einen weitläufigen Verwandten, einen erfolgreichen Parteifunktionär und Cousin seiner Mutter, den er noch nie gesehen hatte, der ihm aber trotzdem die noch fehlenden viertausend Rubel lieh.
    Am Freitag gingen Andrej und ich mit zwölftausend
Rubel in seiner Sporttasche zum Autogeschäft am Südbahnhof. Der Kauf dauerte einen ganzen Tag. Aus fünfzig unterschiedlichen Pkws wählten wir einen, der fahren konnte: Er war knallgelb, auf der hinteren Haube klebte ein Zettel mit dem Wort »Banane«, was wahrscheinlich die offizielle Bezeichnung für seine Farbe war. Auf jeden Fall nannten wir das Auto ab sofort nur noch »Banane«. Die zwölftausend Rubel gingen über den Verkaufstresen und wurden sorgfältig gezählt. Unsere Abenteuer mit der Banane fingen allerdings gerade erst an.
    Wir mussten erst einmal zum TÜV, in die Werkstatt und dann zur Polizei. An diesem Tag erfuhr ich aus erster Hand, was Korruption bedeutet. Man musste dem Verkäufer ein Fünfer geben, um eine Runde Probe zu fahren. Danach ein Fünfer am Tor der TÜV-Stelle, die »eigentlich gerade geschlossen« war. Aber mit dem Fünfer ging das Tor auf, noch ein Fünfer und der Ingenieur, der »eigentlich gerade Mittagspause« hatte, war bereit, sie um eine Stunde zu verschieben. Ein weiterer Fünfer, und ein Meister sagte uns, was an dem nagelneuen und sorgfältig ausgewählten Wagen mit einem Jahr Staatsgarantie sofort ausgetauscht werden müsste und was erst später: Tank, Getriebe, die vordere Radaufhängung – ein Drittel von unserem gelben Moskwitsch wurde gleich am ersten
Tag repariert. Andrej hatte eine Vorahnung gehabt und deswegen gleich einen Stapel Fünf-Rubel-Scheine mitgenommen.
    Am Ende des Tages war der Stapel alle, dafür fuhren wir mit der Banane zum Nachtbaden an den Moskwasee. Mit hundertvierzig km/h und offenen Fenstern rasten wir durch die Stadt, ließen die Scheinwerfer aufs Wasser leuchten und stellten das Radio auf volle Lautstärke. Es war ein großer, ein unvergesslicher Abend. Aber schon am nächsten Tag wollte die Banane nicht anspringen, es war irgendetwas kaputtgegangen  – am Getriebe. Seitdem habe ich meinen Freund nur noch mit dem Schraubenschlüssel in der Hand gesehen.
    Es war also kein Zuckerschlecken, ein Autofahrer im Sozialismus zu sein. Die Autos fielen buchstäblich auseinander, und trotzdem oder gerade deswegen waren die meisten sowjetischen Fahrer Raser. Dabei galten in der Sowjetunion strenge Verkehrsregeln und eine strikte Geschwindigkeitsbegrenzung: sechzig km/h in der Stadt, hundert auf der sogenannten Hochgeschwindigkeitsstraße, der sowjetischen Autobahn. Doch die Gesetze im Sozialismus wurden gemacht, um gebrochen zu werden. Niemand hielt sich an diese Geschwindigkeitsbegrenzungen und jeder, der konnte, nutzte den Vorteil des geringen
Verkehrs schamlos aus. Man fuhr selten, aber wenn, dann schnell.
    Trotz dieser streng klingenden Gesetze war die Sowjetunion in ihrem Kern ein Paradies für Raser. Damals gab es noch keine Computer, keine digitalen Verbrecherdateien, die Höchststrafe für alle Verkehrsvergehen belief sich auf zehn Rubel, und selbst die mussten nur gezahlt werden, wenn die Verkehrspolizei die Raser schnappte. Die meisten fuhren keinen eigenen Wagen, sondern einen mit einer Vollmacht, und fast alle »vergaßen«, ihre Kennzeichen hinten anzuschrauben. Die Polizei musste rasen, um die Raser zu

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