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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Jubiläum beitragen.«
    Die Stadt Bonivur wurde nie zu Ende gebaut. Bereits in den Achtzigern wurden immer mehr Arbeitskräfte abgezogen, und kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion verließen die letzten Baubrigaden diese letzte Baustelle des Sozialismus mit einem Schiff namens
Dreißig Jahre DDR . Einsam und verlassen steht die Bonivur heute in der Taiga. Langsam erobert die Natur die einst kultivierten Flächen zurück. Junge Bäume sprengen den Asphalt. Die Mauern des Kulturhauses zerfallen. Den Brief »An die jungen Arbeiter« lesen die Bären den Wölfen vor.

Schimmelige Hunde
    Mit sechzehn bekamen junge Menschen in der Sowjetunion ihr erstes Dokument. Der rote Pass galt als Ausweis endgültigen Erwachsenenseins, und alle Schüler waren ein bisschen stolz. Unsere Klassenlehrerin forderte uns auf, die Pässe mit in die Schule zu bringen, in einer besonderen Unterrichtstunde würde sie uns alle Rechte und Pflichten eines frischgebackenen Sowjetbürgers erklären. Meine Klassenkameraden wollten unbedingt meinen Pass sehen, aber ich drückte mich, weil darin gleich neben dem Foto unter der Rubrik Nationalität »Jude« stand. Ein solches Dokument konnte mir keine zusätzliche Autorität verschaffen.
Aber unsere Lehrerin bestand blöderweise darauf, dass wir uns unsere Pässe gegenseitig zeigten.
    »Kaminer will sich nicht ausweisen, er hat einen Judenpass!«, schrie einer der Schüler. Die ganze Klasse lachte, alle wollten auf einmal nur noch meinen Pass sehen. Die Lehrerin murmelte irgendetwas über den Internationalismus des sowjetischen Bürgers. Das war für mich ein schwacher Trost. In der ganzen Klasse schien ich der Einzige mit einer krummen Nationalität zu sein. Zwei weitere Schüler, die genau wie ich aus jüdischen Familien stammten, hatten keinen solchen Eintrag in ihrem Dokument. Anscheinend hatten sie einen russischen Großvater oder eine russische Oma oder einfach gute Beziehungen.
    Eine wichtige Lehre, die ich aus dieser Unterrichtsstunde mit nach Hause nahm, war: Ich bin in einem Gastland aufgewachsen, gehöre nicht ganz hierher und muss meinen Pass nach Möglichkeit geheim halten. Der erste Mensch, dem ich das rote Dokument dann ein Jahr später freiwillig zeigte, war mein neuer Freund Kazman. Er besaß auch einen »Judenpass« und machte daraus kein Geheimnis. Im Gegenteil. Kazman brachte mich »auf den Berg« – so nannte man die kleine steile Straße in der Nähe des Denkmals für die heldenhaften Verteidiger von Plewna, wo sich die Moskauer Synagoge befand. Dort lernte ich
viele andere Jungs kennen, in deren Pässen zum Teil noch heißere Sachen unter der Rubrik »Nationalität« standen: »Moldawischer Jude« oder »Usbekischer Jude« zum Beispiel.
    Diese jungen Leute hatten früh erkannt, dass es auch Spaß machen konnte, ein Jude in der Sowjetunion zu sein. Zu jedem jüdischen Feiertag fand auf dem Berg ein leicht aufrührerisches Straßenfest statt. Hunderte von Menschen versammelten sich dort, während die Miliz und der KGB versuchten, die Leute im Zaum zu halten, meistens allerdings vergeblich. Jedes Mal gab es einen Höhepunkt bei diesen Feierlichkeiten. Mal warf eine ältere Aktivistin mit dem Spitznamen »Dampfer« mit bloßen Händen das kleine Lada-Polizeiauto um, ein andermal wickelten sich mehrere Teilnehmer in Bettlaken, auf denen »Lasst uns raus nach Israel!« stand, und liefen von den Ordnungshütern verfolgt wie Gespenster um die Synagoge. Kazman und ich machten natürlich immer mit, es war laut, eng und stimmungsvoll, wie bei einem guten Open-Air-Konzert – nur ohne Bands.
    Gegenüber der Synagoge befand sich die Redaktion der Zeitung Sowjetischer Sport . Dort saßen rund um die Uhr einige KGB-Männer, deren Sport es war, die Juden zu beobachten. Immer wieder landeten
Aktivisten in der Redaktion, wo sie verhört wurden. Auch wir landeten dort. Die Beamten kannten uns vom Sehen und hatten von uns bereits die Nase gestrichen voll.
    »Du bist doch in ein paar Wochen sowieso in deinem geliebten Israel, was hast du hier noch verloren?«, herrschte einer der Beamten meinen Freund an. Nach zwei Stunden warfen sie uns wieder raus. Ich wusste von Kazmans baldiger Abreise gar nichts und fragte ihn sauer, wie man das bitte verstehen dürfe, dass der KGB besser informiert war als seine Freunde.
    »Ich kann hier überhaupt nicht mehr atmen, ich muss raus«, winselte er. »Wenn ich noch länger hierbleibe, werde ich vielleicht sterben!«
    Kazman litt tatsächlich seit frühester

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