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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Hausversammlung beschlossen kürzlich die Bewohner unseres Hauses, dem Hausmeister zu kündigen. Er hatte sich im Laufe des vorangegangenen Jahres um so gut wie nichts im Haus gekümmert, keine einzige Glühbirne ausgewechselt und nicht einmal die Briefkästen richtig beschriftet. Auf diesen Hausmeister war kein Verlass, er stellte bloß einen völlig überflüssigen Posten auf der Betriebskostenabrechnung dar. Unser junger, blond gefärbter Hausverwalter mit lackierten Fingernägeln lachte jedoch bloß über unseren Entschluss.
    »Natürlich könnt ihr selbst die Glühbirnen auswechseln und Briefkästen beschriften«, meinte er. »Wahrscheinlich werdet ihr es sogar schneller und besser als der Hausmeister tun. Aber überlegt es euch noch einmal. Der Hausmeister ist nämlich versichert, aber wenn jemand von euch von der Leiter fällt, müsst ihr die Krankenhauskosten selbst tragen.«

    Das war ein schlagkräftiges Argument. Nach langen Diskussionen beschloss die Hausgemeinschaft, den Hausmeister zu behalten. Zumindest wussten wir jetzt, was der Sinn seiner Nichtarbeit war: einmal von der Leiter zu fallen, ohne dass wir dafür zu bezahlen brauchten. Dabei geht es unserem Haus nicht gut. Es tropft durchs Dach, und auf dem Hof wuchern gelbe Blümchen. Man darf die Schäden aber nicht beheben, höchstens fotografieren.
    Oft sehe ich neue Gesichter bei uns auf dem Hof. Ältere Männer mit Pfeife im Mund und gepflegte alterslose Hausfrauen. Das sind Eltern aus Bayern, die ihre Kinder in Berlin besuchen. Ich stelle mir vor, wie sie ökologisch bewusst durch ganz Deutschland mit der Bahn fahren, Kaffee trinken, Kuchen essen und durch das dicke Fensterglas in die liebliche deutsche Landschaft schauen, auf weite Felder mit gelben Blümchen und kleine Wäldchen mit Fichten, die wie von Hand in Reih und Glied aufgestellt zu sein scheinen. In den Zugabteilen hängen überall Plakate mit grauhaarigen Männern, die durch diese lieblichen Landschaften spazieren oder gelbe Blümchen sammeln und dabei glücklich lächeln. Sie werben für ein Prostatamedikament.
    In amerikanischen Zügen, so glaube ich zumindest, wird wahrscheinlich mehr für Viagra geworben.
Amerikanische Frührentner sind einfach noch nicht so entspannt wie die deutschen. Ich habe sie schon mehrmals in russischen Nachtclubs erlebt, sie suchen stets Ärger und sind für alle Arten von Abenteuern zu haben. Deutschland scheint in dieser Hinsicht – glücklicherweise – sein Pulver bereits verschossen zu haben. Ohne Schmerzen zu pinkeln und auf dem Hof gelbe Blümchen zu gießen, das ist unser Ehrenbeitrag zur Weiterentwicklung der Welt. Vielleicht macht der Kapitalismus bald auch noch die Chinesen, Afrikaner und Inder reich, dann wird niemand mehr arbeiten müssen, die Lebensmittel werden von Computern und Robotern produziert, und der letzte Arbeiter wird wegrationalisiert sein.
    Die größten Arbeitseinsätze des Sozialismus oder das, was von ihnen übrig geblieben ist, werden in die Reiseführer der Zukunft aufgenommen als Attraktionen für neugierige Prostata-Touristen. Ein solches Highlight wird dann unter anderem die sibirische Stadt Bonivur abgeben, die letzte Baustelle des heroischen Sozialismus. Vitali Bonivur ist eine historische Figur, ein Held aus der Zeit des sowjetischen Bürgerkrieges, der für die Befreiung Sibiriens und für die Weltrevolution kämpfte: zuerst gegen die japanischen Okkupanten und dann gegen die Weiße Armee von Admiral Koltschak. 1922, mit zwanzig Jahren,
verlor er sein Leben. Berühmt wurde er im ganzen Land durch das sowjetische Abenteuerbuch Das Herz von Bonivur , das 1944 veröffentlicht und 1969 verfilmt wurde.
    Der romantische Geist von Vitali Bonivur, dieses russischen Helden zwischen Bonaparte und Bolivar, wehte bis in die Achtzigerjahre durch das Land. Auf den Namen Bonivur wurden Kolchosen, Krankenhäuser, Straßen und Schulen getauft. Mitten in der sibirischen Taiga legte man eine ganze nach ihm benannte Arbeiterstadt an: als Denkmal für den Sieg des Proletariats über den Kapitalismus und die Widrigkeiten der Natur. Im Zentrum von Bonivur wurde ein großes Kulturhaus errichtet, in dessen Fassade man einen Brief einmauerte: »An die jungen Arbeiter aus dem Jahr 2017«. »Liebe Nachfahren!«, heißt es da. »Ihr feiert nun das hundertjährige Jubiläum der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Wir beneiden Euch! Mit Eurer Stoßarbeit könnt Ihr gemeinsam mit den befreiten Arbeitern aus der ganzen Welt zu diesem

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