Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
nicht anmerken und blieben in meiner Erinnerung allesamt arm. Nur wenn Europäer irgendwo im Osten landen, fangen sie manchmal an zu glänzen und zu blinken, wie frisch gekaufter Weihnachtsschmuck auf einer jungen schwedischen Tanne.
Ein solches Exemplar, dazu noch einen Schweden, haben wir damals in der »Schwangeren Spionin« kennengelernt. Er hieß Sven und drückte jeder Bedienung und jedem Restaurantgast seine Visitenkarte in die Hand. Sven logierte in Sankt Petersburg in demselben schicken Hotel wie wir, in einer sogenannten Business Suite im vierten Stock. Laut seiner Visitenkarte sollte er der Generaldirektor von Ikea sein. Ich weiß nicht, wie viele Generaldirektoren von Ikea es auf der Welt gibt, ich nehme an, zwei Dutzend. Dieser eine führte sich jedoch auf, als wäre er der einzig wahre und hätte auch schon die halbe Welt mit seinen Produkten vermöbelt.
Russland hatte es Sven angetan, er schmiss mit Geld nur so um sich, als hätte er erst in Sankt Petersburg seinen wahren Reichtum entdeckt. Eigentlich war er in die Stadt gekommen, um Geschäftskontakte zu knüpfen und die Sankt Petersburger mit preiswerten schwedischen Möbeln zu beglücken. Stattdessen verschwendete
er die meisten seiner Visitenkarten an die hübschen jungen Damen in unserem Hotel, die mit bunt bemalten Gesichtern und in weit aufgerissenen Dekolletés an der Bar im ersten Stock auf Kundschaft warteten, im Dienste der Liebe und der Völkerverständigung. Es sah aus, als würden die Sankt Petersburger noch lange auf ihre Möbel warten müssen.
Der Schwede ging pünktlich jeden Tag gleich nach dem Frühstück in die Bar. Es war unklar, wann und wo und ob er überhaupt seine geschäftlichen Verabredungen wahrnahm. In kürzester Zeit fand vor meinen Augen eine bemerkenswerte Verwandlung statt. Aus einem bescheidenen großen Schweden wurde ein millionenschwerer Ikea-Superscheich. Larissa, Natascha, Tamara und ihr Kolleginnen fanden ihn alle toll und schämten sich auch nicht, ihm das direkt ins Gesicht zu sagen. Er musste so gut wie nichts dafür tun, nur gelegentlich sein Portemonnaie aus der Tasche ziehen.
Für einen Schweden, der in einer durch und durch feminisierten Gesellschaft aufgewachsen ist, in der man nur durch hartes soziales Engagement als gleichberechtigter Partner auf die Gunst einer Frau hoffen kann, die sich noch dazu nicht einmal anschickt, besser auszusehen, als die Natur vorgesehen hat – für einen solchen Schweden war die Bar im Hotel Angleterre
zweifellos eine prickelnde Erfahrung. Manchmal überkam Sven jedoch der Verdacht, dass diese Frauen ihre Gefühle zu ihm bloß vortäuschten und in Wirklichkeit nur an seinem Geld interessiert waren. Das war eine schreckliche Vorstellung. Doch die Gefühle der Frauen waren echt. Sie liebten sein Geld aufrichtig, leidenschaftlich, hingebungsvoll. Und mit dem Geld zusammen liebten sie ihn – Sven.
Mit einer von diesen Frauen, Natascha, habe ich später im Hotel gesprochen. Sie erzählte mir gerne Anekdoten über den Schweden. Sexuell bewegte sich Sven hart an der Grenze zur Perversion. Er wollte gekämmt, ausgezogen, gestreichelt und auf die Wange geküsst werden. Einmal bestand er darauf, dass Natascha ihm halb bekleidet ein hartes Ei kochte. Ich wollte noch mehr von diesen neureichen europäischen Schweinereien erfahren, leider wurde unser Gespräch an dieser Stelle durch einen anderen Kunden unterbrochen.
Arbeit im vorigen Jahrhundert
Ich habe das Gefühl, dass niemand mehr arbeitet, alle sind nur noch mit Geldverdienen beschäftigt. Im heroischen Sozialismus wurde die Arbeit lange Zeit als ehrenvolle Aufgabe angesehen, die mit entsprechenden Ritualen gefeiert wurde. Die Weihe der jungen Arbeiter am Tag des Metallurgen zum Beispiel wurde im ganzen Land live im Fernsehen übertragen. Die jungen Familiengründer in den Arbeiterwohnheimen bekamen zur Hochzeit ein symbolträchtiges Bügeleisen geschenkt, »damit im Privaten alles glattgeht und es am Arbeitsplatz dampft«, wie es hieß. Die Arbeit jedes Einzelnen galt als sein Beitrag für das Wohl aller.
Im Kapitalismus muss dagegen die Arbeit dem bloßen Geschäftemachen weichen. In der kapitalistischen Produktion geht es in erster Linie um die Rationalisierung des Arbeitsprozesses, das heißt um die Reduktion der Produktionskosten, genau genommen ums Nichtarbeiten also. Im Kapitalismus ackert nur der Dumme, der Kluge macht Kasse. Die Arbeit ist unter solchen Bedingungen tückisch. Auf der alljährlichen
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