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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Kindheit unter einer schweren Krankheit, die sich in Atembeschwerden, Erstickungsanfällen und Augenjuckreiz äußerte. Die Ärzte diagnostizierten eine chronische bronchiale Entzündung, aber er traute der sowjetischen Medizin nicht und machte das Klima der mittelrussischen Ebene für seine Leiden verantwortlich. Kazman mochte seine Heimatstadt nicht, alles hier kam ihm kalt und grau vor: die Häuser, die Menschen, die Autos im matschigen Schnee. Ich nannte seine Krankheit Russland-Allergie. Normalerweise reichten ein paar Bier, um Kazman Moskau gegenüber
wieder freundlicher zu stimmen, doch manchmal, wenn er sein Asthmaspray bei irgendeiner Party vergaß, konnte es ziemlich lebensbedrohlich werden. Einmal bekam er einen Erstickungsanfall um zwei Uhr nachts direkt neben dem Roten Platz, in einer Gegend also, wo wir niemanden kannten. Als Medizin hatte wir nur eine angebrochene Cognacflasche. Mit Kazman im Arm suchte ich die nächste diensthabende Apotheke, fischte seine Kodeinrezepte aus seiner Tasche und ließ mich von der alten Apothekenhexe als »Drogenschwein« und »Kodeinmutant« beschimpfen.
    Kazman erhoffte sich nun die ultimative Heilung auf israelischem Boden. Einen Monat später verabschiedete ich mich auf dem Kiewer Bahnhof von meinem Freund – »für immer«, wie er damals pathetisch meinte. Er fuhr allein, seine Mutter machte gerade Karriere in einer Papierverarbeitungsfabrik in einem Moskauer Vorort und wollte um keinen Preis ihren Job aufgeben. Ich wünschte Kazman gute Besserung. In Israel wurde er in eine frisch gebaute Siedlung am Wüstenrand einquartiert. Er schickte mir sogar ein paar Fotos. Seine neue Heimat war nicht grau, sie war blendend weiß. Nagelneue weiß gestrichene Häuser glänzten in der gleißenden Sonne, auf den Straßen lag weißer Sand, ein schneeweißer Kazman umarmte
eine einsame weiß bemalte Palme und lächelte verlegen in die Kamera. Beide sahen ungesund aus.
    Das Klima in Israel war ganz anders als in Russland: tagsüber sehr heiß, abends saukalt. Es gab keine lustigen Demos, und alle seine Nachbarn waren Juden  – auch nichts Besonderes. Am Vormittag saßen die meisten auf einer Schulbank und lernten Hebräisch, abends verschanzten sich alle in ihren weißen Häusern und glotzten TV. Die Fernsehgeräte blinkten in den nächtlichen Fenstern, und manchmal kamen die Wölfe aus der Wüste und heulten die Fernsehlichter an. Kazmans Allergie begann, sich unter diesen Umständen zu verschlimmern. Der Farbenwechsel brachte nicht die erhoffte Genesung, er begriff sich immer mehr als Weltmann und wanderte nach sechs Monaten Wüstenleben nach San Francisco aus. Dort lebte sein Onkel mütterlicherseits, der ein typisch amerikanisches Matroschka-Geschäft betrieb. Er verkaufte Postkarten, T-Shirts mit »Love and Peace in San Francisco«-Aufdruck, Lottoscheine und russische Souvenirs, Matroschkas, die von chinesischen Handarbeitern in der Nachbarschaft angefertigt wurden und deswegen sehr robust waren, aber alle ein wenig wie Mao aussahen.
    Die frische Luft Kaliforniens brachte Kazman etwas Erleichterung, aber nicht für lange. Als Verkäufer
im Laden seines Onkels konnte Kazman fast einen Ehrenplatz im Guinnessbuch der Rekorde ergattern: In zwei Jahren verkaufte er dort keine einzige Matroschka, nicht einmal eine Postkarte. Mein Freund, der sich im Sozialismus sehr erfindungsreich gezeigt und immer gut über die Runden gekommen war, hatte im Kapitalismus große Anpassungsschwierigkeiten. Auch beim Konsumieren hatte Kazman Pech. Das erste Auto seines Lebens erwarb er 1992 bei einem Gebrauchtwagenhändler. Für einen Superpreis von hundert Dollar wurde er stolzer Besitzer eines großen amerikanischen Fords, aber nur für eine Stunde. Auf dem Weg nach Hause fuhr sein Auto immer langsamer und dann gar nicht mehr. Die Geräte zeigten eine Überhitzung des Motors an. Als Kazman seinen Wagen reparieren wollte, musste er feststellen, dass der Hubraum zugeschweißt war. Man hätte ihn nur mit einer Motorsäge öffnen können. Er ließ den Wagen mitten auf der Straße stehen und ging zu Fuß nach Hause. An dem Tag bekam er seinen ersten Erstickungsanfall in Amerika. Danach ging es mit seiner Gesundheit immer mehr bergab, die kalifornischen Farben halfen nicht mehr. Die amerikanischen Ärzte sagten ihm, sein Asthma würde durch allergische Reaktionen ausgelöst. Doch worauf genau er allergisch reagierte, konnten sie nicht herausfinden.

    Als Kazman erfuhr, dass es mich nach Berlin

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