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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Geldscheine, mit der Zahl Dreiundzwanzig darauf und dem Kopf von Alexander Iwanowitsch in der Mitte. Er gab auf. Nach einer Woche fuhr er gesenkten Hauptes wieder nach Frankfurt zurück. Wir dachten schon, wir würden den Mann nie wiedersehen, doch zehn Tage später rief er uns quicklebendig aus Amerika an. Statt ihn umzubringen, hatten seine Geschäftspartner ihn in einer Geheimmission nach San Francisco geschickt. Dort sollte er für seine Gläubiger bei einer amerikanischen Partnerfirma
Schulden eintreiben. Diesen schwierigen Auftrag erfüllte Alexander Iwanowitsch glänzend. Leider gab es in San Francisco zu viele Kasinos. Sie hinderten ihn daran, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten mit dem Geld anderer Menschen in der Tasche auf dem schnellsten Wege wieder zu verlassen.
    Als er uns anrief, erkundigte sich Alexander Iwanowitsch vorsichtig, ob er unsere Berliner Wohnung noch einmal als Zufluchtsort nutzen könnte. Wir hatten damals jedoch gerade andere Probleme und sagten Nein. Und schließlich hatten wir Besseres zu tun, als die Nächte in Berliner Kasinos zu vertun. Deswegen logen wir ihm vor, selbst auf Reisen gehen zu wollen. Ich hatte ihn damals bereits abgeschrieben: Noch zwei, maximal drei Jahre hatte ich Alexander Iwanowitsch gegeben. Doch ich irrte mich. Der Grund für die falsche Einschätzung der Lebenserwartung von Alexander Iwanowitsch lag daran, dass ich viel zu lange im Westen gelebt habe. Hier wird die russische Lebenserwartung traditionell als besonderes niedrig eingeschätzt. Oft kann man in den westlichen Medien nachlesen, die Russen würden es im Schnitt nur noch auf siebenundsechzig Jahre bringen, während die Menschen im Westen es bis einundachtzig schafften, in Japan wären sie sogar noch langlebiger. In Wirklichkeit ist die Lebenserwartung aber nur eine
Frage der Einstellung. Meine Landsleute haben eine riesige Lebenserwartung, sie erwarten von ihrem Leben sehr viel. Die Leute im Westen leben dagegen nach dem Schildkröten-Prinzip: zwar lange, aber langsam. Mit zwanzig sind sie erst mit der Schule fertig, mit dreißig denken sie über ihren Wunschberuf nach, mit vierzig spielen sie mit dem Gedanken, irgendwann einmal eine Familie zu gründen, und mit fünfzig fangen sie an, nach der richtigen Partnerin dafür zu suchen. Die Russen dagegen wollen alles sofort und mehrmals. Oft schaffen sie es, drei Leben hinter sich zu lassen, während ihre Altersgenossen im Westen gerade erst in der Mitte ihres ersten und einzigen Lebens stecken.
    Und so trafen wir letztes Jahr unseren alten Freund Alexander Iwanowitsch in Sankt Petersburg wieder, mitten in seinem siebten Leben, im Restaurant »Schwangere Spionin«, dessen Besitzer und Geschäftsführer er geworden war. Der idiotische Name dieses Lokals ist im Übrigen landestypisch. Die meisten gehobenen Restaurants in Russland tragen solche eigenartigen Namen, weil sie in erster Linie keine kulinarischen Einrichtungen sind, sondern ein Hort der Unterhaltung. Meine Landsleute gehen nicht in ein Restaurant, um ihren Magen zu stopfen, das können sie auch zu Hause tun. Wenn sie ausgehen, dann wollen
sie unterhalten werden, und zwar richtig. Je ausgefallener die Show, desto größer der Umsatz.
    In der »Schwangeren Spionin« wurden wir ausschließlich von jungen Frauen bedient, die so taten, als wären sie im neunten Monat schwanger. Dabei sprachen sie alle männlichen Gäste im Restaurant an, als kämen sie als Väter ihrer Kinder infrage. Die Frauen waren wahrscheinlich gut ausgebildete Schauspielerinnen, alle zehn Minuten flippte der eine oder andere Gast darüber aus.
    Alexander Ivanowitsch war uns gegenüber sehr freundlich, er hatte vor kurzem geheiratet, und sein Laden lief gut. Die ersten Jahre nach seiner Rückkehr in die Heimat dürften nicht leicht für ihn gewesen sein. Er hatte sich zunächst weiter im Stahlhandel versucht und war von seinen Gläubigern in einem kleinen Büro an den Tisch gekettet worden. Er übernachtete und aß im Büro. Sein unfreiwilliger Spielsuchtentzug dauerte fast ein halbes Jahr. Danach wurde er freigelassen und wechselte die Branche. Inzwischen steigt seine Lebenserwartung beinahe täglich. Nächstes Jahr wird er fünfzig und sieht auch wie ein Fünfzigjähriger aus. Sein Reichtum war nicht zu übersehen. Komisch, dachte ich, in den sechzehn Jahren, die ich bisher in Deutschland verbrachte, habe ich bestimmt Hunderte kennengelernt, die viel
vermögender als Alexander Ivanowitsch waren, doch sie ließen es sich

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