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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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verschlagen hatte, wollte er mich unbedingt besuchen. Er habe viel Gutes über das europäische Klima gehört, auch die Farben sollten bei uns zufriedenstellend sein, schrieb er und bat mich, ihm eine Bleibe in Berlin zu organisieren. Ich mietete für ihn eine preiswerte Wohnung für einen Monat in Wedding. Kazman borgte sich Geld von seinem Onkel und flog nach Berlin. Hier wurde ihm gleich am ersten Tag schlecht. Er konnte kaum atmen, bekam noch Juckreiz und Halsschmerzen dazu. Seine Nase lief. Er schimpfte auf die deutsche Hauptstadt. Ich dagegen beschloss, nun endgültig seine geheimnisvolle Krankheit aufzuklären. Ich schleppte Kazman zu einem mit uns bekannten Allergologen, dann zu noch einem und noch einem anderen. Sie machten Tausende von Tests, die nichts und wieder nichts brachten.
    Doch ich gab nicht auf. Statt einen Monat hielt Kazman es vier in Berlin aus. Zuletzt fand ein kluger Arzt dann doch noch die Ursachen für seine Allergie. Zwei Tests waren positiv: die auf Hunde und Schimmel. Wir waren sprachlos. Kazman hatte noch nie mit einem Hund unter einem Dach gewohnt und war auch nicht verschimmelt. Ich hatte schon gedacht, mein Freund sei allergisch gegen die Welt, er sei zu ewigem Ortswechsel verdammt, könne sich nirgendwo
länger aufhalten, weil es keinen Ort auf der Welt gab, der ihn glücklich machen konnte. Aber nicht doch. Schimmelige Hunde waren die Ursache für seinen Reisestress.
    Von Berlin fuhr Kazman nach Moskau zurück. Er schreibt mir in der letzten Zeit nur noch selten. Ich habe gehört, dass er in der Firma seiner Mutter arbeitet, die fast alle russischen Verlage mit Papier beliefert. Während Kazman unterwegs war, stieg seine Mutter in den ersten Perestroikajahren beinahe zu einer russischen Oligarchin auf und erschuf aus dem Nichts ein ganzes Papierimperium. Seitdem aber Kazman in das Familiengeschäft eingestiegen ist, steuert es unausweichlich Richtung Pleite. Er ist noch immer krank – in seinem letzten Brief schwärmte er von Thailand. Ein ganz anderes Klima soll dort herrschen, immer warm und die Menschen immer freundlich, alles sehr preiswert und bunt. Er spiele mit den Gedanken, sich mit Mutters Geld für längere Zeit in Bangkok niederzulassen.
    »Die schimmeligen Hunde werden Dich auch dort finden, mein Freund«, schrieb ich ihm skeptisch zurück.

Die Straßen des vorigen Jahrhunderts
    Einmal habe ich mich furchtbar verlaufen – in Mannheim: »eine moderne Stadt«, deren Bewohner laut Werbeprospekt »anspruchsvolle Stadtmenschen sind, die kurze Wege wollen«. Wahrscheinlich wegen dieser kurzen Wege haben die Mannheimer auf Straßennamen verzichtet. Hätte ich ihren Werbeprospekt früher gelesen, dann wäre ich vorbereitet gewesen. »Leben im Quadrat« stand dort ganz oben fett gedruckt. Nun war es aber zu spät. Die von mir gesuchte Adresse lautete »R6Q5« oder so ähnlich.
    »Da sind Sie hier in P1 ganz falsch«, klärten mich die höflichen Einheimischen auf, bestimmt alles leidenschaftliche
Schachspieler, die sich in ihren Quadraten bestens auskannten. »Haben Sie in der Schule kein Alphabet gelernt?«, fragten mich einige erstaunt. Mehrmals lief ich um die gleichen, ordentlich durchnummerierten Blöcke herum. Die Schule und das Alphabetlernen, das lag Jahrzehnte zurück. Ich vermisste Straßenschilder, die man sich merken konnte, Straßen, die menschliche, florale, faunale oder sogar galaktische Namen trugen. Aber Mannheim ist anders.
    In Tokio, so erzählte mir ein Freund, sind die Straßen überhaupt nicht beschriftet, aber die Einheimischen finden dort trotzdem immer den richtigen Weg, weil sie genau wissen, wo sie hin wollen. Einem Ausländer dagegen würde die Straßenbeschriftung ohnehin nichts nutzen, denn er könnte sie ja nicht entziffern. Nach dieser seltsamen Logik brauchen die Japaner den Straßen keine Namen zu geben.
    In meiner Heimatstadt Moskau scheiterte neulich eine groß angelegte Aktion des Bürgermeisters, die Straßen moderner zu gestalten. Er wollte an allen Häusern Klingelschilder mit Gegensprechanlagen montieren. Die entsprechenden Schilder und Paneele mit Knöpfen wurden zwar an den Haustüren angebracht, aber den Bewohnern war es unheimlich, ihre Namen so der breiten Öffentlichkeit preiszugeben. Das war, als würde jeder in Deutschland seinen Gehaltszettel
an die Hausfassade kleben, also das heiligste Tabu des Kapitalismus brechen. Durch diese anonymen Knöpfe auf den Gegensprechanlagen sind die Moskauer nun noch untergründiger geworden:

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