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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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stehen, aber nicht, wofür du sie vielleicht hältst«, erklärte ihr mein Vater das Allegorische.
    »Ich rate dir, lass deine Schlüssel lieber stecken, sonst zieht sie dir jemand raus aus deinemTorschloss!«, bemerkte meine Mutter dazu – nicht weniger allegorisch.
    Trotz heftiger Kritik gab mein Vater nicht auf.
Diese Gedichte seien letzten Endes seine einzigen Freunde, meinte er melancholisch, die wahren Empfindungen seines Ichs.
    Wenn es nach einer Dichterlesung in der Küche Krach gab, wechselte mein Vater von der lyrischen in eine philosophische Phase: »Wer bin ich? Wie soll ich mich einordnen? Es gibt auf der Welt so viele Kriterien zwischen Gott und einer Bakterie. Oft fühle ich mich unterdrückt. Dann möchte ich mir selbst eine runterhauen. Doch manchmal, wenn ich in den Spiegel schaue, mitten im Sommer kurz vor den Ferien, sehe ich dann doch Göttliches in mir – und keine Spur von Bakterien.«
    Solche Phasen waren aber nie von Dauer, schon bald knüpfte er sich neue, verheißungsvolle Unbekannte in dieser Welt vor. Eine Reihe von gereimten Liebesbriefen widmete er den berühmtesten Frauen des Landes: Er schrieb an die erste Frau, die den Nordpol eroberte, an die erste Frau, die einen Ministerposten erklommen hatte, und an Valentina Tereschkowa, die erste Kosmonautin, die 1964 einmal um die Erde flog. Dieser Gedichtzyklus hieß »Die Ersten« und war inhaltlich etwas monoton. In jedem Gedicht bot sich mein Vater der Frau als Mitstreiter an: Bei der Ministerin wollte er Sekretär werden, bei der Nordpoleroberin bot er sich sogar als Zugkraft
für ihren Hundeschlitten an, natürlich allegorisch. Zusammen mit der Tereschkowa wollte mein Vater in eine Weltraumkapsel ziehen, hatte aber keine Chance. Sie wurde gleich nach ihrem Flug auf Befehl des Staates mit einem anderen Kosmonauten zwangsverheiratet, um herauszubekommen, ob Kosmonauten untereinander Kinder kriegen könnten. Tereschkowa bekam ein Kosmonauten-Kind und ließ sich dann von ihrem Kosmonauten-Ehemann scheiden, doch da war mein Vater schon mit meiner Mutter verheiratet. Also blieb seine Kosmonautinnen-Affäre nur ein Gedicht:
    Unvergleichbare Valentina,
Während du im Kosmos bist,
Sende ich dir Signale,
Ich, ein einfacher Ökonomist.
Wenn du auf die Erde schaust
Aus deinem Raumschiff,
Siehst du zwei große Ozeane
Und dazwischen mich.
    Seine Liebeserklärungen an die Welt haben ihm letzten Endes nichts außer Ärger in der Küche eingebracht, doch sie waren ihm wichtig, diese Pfeile der gehobenen Romantik in einem nicht besonders abwechslungsreichen
Leben. Ich habe diese Leidenschaft einmal übernommen, als ich 1986 in der sowjetischen Armee Liebesbriefe für meinen damaligen Vorgesetzten, Sergeant Krilenko, schreiben musste, adressiert an seine Geliebte Larissa in Kasachstan. Damals konnte ich einfach nicht Nein sagen. Ich war ein junger Soldat aus dem allgemein verhassten Moskau. Krilenko war ein Altgedienter und eine große Nummer im Stab. Bevor ich zur Armee ging, war ich Schüler gewesen, Krilenko Bergarbeiter. Er war zwanzig, wirkte aber wie fünfunddreißig und sah den ewig lächelnden Proletariern auf den Sowjetplakaten ähnlich. Ein Hammer wirkte in seiner Hand wie ein Streichholz. Aber er hatte Probleme, sich schriftlich zu äußern, besonders wenn es um komplizierte zwischenmenschliche Beziehungen ging.
    »Schreib ihr, dass ich sie liebe und dass ich eine Bulette aus ihr mache, wenn sie nicht auf mich wartet«, diktierte er mir. Ich war dafür vom Küchendienst befreit. Während die anderen Rekruten Kartoffeln schälten, saß ich also in der warmen Kaserne und schrieb Liebesbriefe an eine mir unbekannte Braut. Am Anfang machte es mir sogar Spaß, ich kam mir außerdem besonders schlau vor, ein bisschen wie Cyrano de Bergerac, nur ohne diese hässliche Nase.
    »Liebe Larissa«, schrieb ich. »Mein Herz schmerzt.
Noch ein halbes Jahr liegt zwischen uns. Jede Nacht sehe ich Dich in meinen Träumen – Deine Lippen, Deine Nase, Deine Brust. Du kannst Dir nicht vorstellen, was ich aus Dir mache, wenn ich zurückkomme.«
    Eigentlich wäre damit die Sache erledigt gewesen. Doch es war mir noch nicht überzeugend genug: Ich wollte aus Krilenko einen Kriegshelden machen.
    »Liebe Larissa«, kritzelte ich weiter. »Ich schreibe Dir diesen Brief auf dem Rücken eines gefallenen Kameraden. Unsere Panzer sind in eine feindliche Falle geraten. Er war ein guter Schütze. Ich habe ihm Dein Foto gezeigt, er starb ohne Schmerzen – mit einem

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