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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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dunklen Straßen des Auslands. Kam der Agent an einem Gemischtwarenladen vorbei, hörte das ganze Land ein Jahr lang Roxy Music, Sparks und ZZ Top . Hatte sich der Agent zufällig an einer anderen Ecke herumgetrieben, fuhr die sowjetische Jugend hernach auf King Crimson ab. Und wenn er an einem Grufti-Geschäft vorbeikam, ächzte wenig später alles zu The Cure .
    Offiziell wurde bei uns jegliche Musik aus dem Westen, die einen künstlerischen Anspruch hatte, ignoriert. Der Staat ließ nur einige niedliche Popbands ins Land, die aber trotz ihrer Harmlosigkeit zensiert wurden und selbst dann nur nach Mitternacht im Fernsehen auftauchen durften. Die breite Schicht der Bevölkerung hat diese Schlagerbands trotzdem angehimmelt, vor allem die Gruppe Boney M. Sie wurde ebenfalls zensiert. Bei ihrem ersten Konzert in Moskau, 1978, durfte sie zum Beispiel
nicht »Rasputin« spielen. Die Eintrittskarten wurden zu unerschwinglichen Preisen auf dem Schwarzmarkt versteigert, die guten Plätze waren für die »besten Leute« reserviert. Schon Monate vor dem Konzert wurden die Straßenhunde und Penner rund um den Veranstaltungsort eliminiert. Worum es in den Songs ging, interessierte niemanden. Auf jeden Hit von Boney M. reimten die Russen ihren eigenen Text: »Bahama, Banama Mama, sieben Rubel – hundert Gramm Marihuana«, oder: »Keiner tanzt wie Rasputin, einmal her und einmal hin.«
    Boney M. eroberte die Herzen des sowjetischen Publikums für immer und ewig, viele sind noch heute treue Fans der Gruppe, besonders in der Provinz. Dort ist man fest davon überzeugt, Boney M. sei eine Weltgröße wie die Beatles . Ich habe sie neulich gesehen, weit weg von jeglicher Zivilisation, in der Wüste Mecklenburgs, auf einem Plakat. Dort stand, die weltberühmte Boney-M. -Gruppe würde demnächst zur Eröffnung einer neuen Kaufland-Filiale aufspielen.

Liebesbriefe
    Kaum hatte meine Tochter alle Buchstaben auswendig gelernt, schrieb sie schon ihren ersten Liebesbrief an einen Freund aus dem Kindergarten: »Lieber Miron, bei uns im Keller gibt es fette Schaben, ich liebe dich, Nicole.« Ich fand den Brief ganz gelungen, ihre Mutter war davon jedoch gar nicht begeistert. Sie erklärte Nicole, dass es eigentlich keine Mädchensache sei, Liebeserklärungen zu schreiben. Die Jungs müssten hierbei die Initiative ergreifen und die Mädchen erst dann antworten, wenn sie einen Pappkarton voller Liebesbriefe zusammenhätten.
    Das erinnerte mich an meinen Vater, der sein ganzes
Leben lang Liebesbriefe an die Welt schrieb und nie eine Antwort bekam. Er verschickte seine Briefe aber auch nie. Mein Vater war in seinem Herzen ein romantischer Schriftsteller, er war der Kunst des Schreibens verfallen. Bei seiner Tätigkeit als stellvertretender Leiter der Abteilung Planwesen in einem Betrieb der Binnenschifffahrt hatte er jedoch keine Zeit für große Romane, deswegen konzentrierte er sich auf kurze Liebesgedichte mit obszönem Inhalt, die er selbst als »Liebesbriefe an die Welt« bezeichnete.
    Mit seinem Privatleben hatten diese Liebeserklärungen nichts zu tun. Im wahren Leben war er erst ein schüchternder Junge, dann ein treuer Ehemann und schließlich ein verantwortungsvoller Familienvater. In seinen Texten aber inszenierte er sich als Herzensbrecher und Frauenschwarm. In der Regel waren seine »Liebesbriefe« an Frauen adressiert, die meinen Vater persönlich nicht kannten, die er aber im Fernsehen gesehen hatte, im Lebensmittelladen in der Schlange oder im Bus auf dem Weg zur Arbeit. Deswegen trugen die meisten seiner Werke romantische Überschriften wie »An die Unbekannte mit der grünen Tüte« oder »An die wunderschöne Unbekannte aus dem Bus 127« oder einfach nur »An eine Unbekannte«. Nie hat er den Versuch unternommen, seine
Werke diesen fremden Frauen zu schicken, stattdessen trug er sie meiner Mutter in der Küche vor:
    Unbekannte mit grüner Tüte,
Du und ich wir stehen wie ein Chor,
Lass mich deine Düfte atmen,
Nimm die Schlüssel von meinem Tor.
    In unserer Küche war seine Kunst nicht unumstritten. Meine Mutter übte Kritik, und manchmal, wenn mein Vater ihrer Meinung nach in seinem Lyrikwahn zu weit gegangen war, flippte sie sogar aus:
    »Was soll denn das heißen? Was für Schlüssel?«, regte sie sich auf.
    »Die Schlüssel, das ist eine Allegorie«, verteidigte sich mein Vater.
    »Ach, ja? Wofür denn? Ich möchte gern wissen, wofür diese verfluchten Schlüssel allegorisch stehen!«
    »Sie können für alles Mögliche

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