Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
balancierten, wo es nichts auszubalancieren gab. Lachseminare kamen auf, Tanz-und Bewegungstheater, Marathonläufe, Nordic Walking.
Die Gesundheitsmagazine priesen körperliche Betätigung als Lebenselixier, woraufhin sich die Leute Skier, Fahrräder und Surfbretter auf die Autodächer schnallten. Für kurze Zeit riss dann der amerikanische Schriftsteller Carlos Castaneda das ganze Harmonieangebot an sich. Am eigenen Beispiel zeigte er, wie die einmalige Einnahme von Meskalin ein ultimatives Einssein mit dem Kosmos und dem Nachbarn bewirkt, vorausgesetzt der Nachbar hat von demselben Zeug genascht.
Als wäre das alles noch nicht genug, fingen viele Menschen an zu hungern; zuerst in Amerika, aber später waren sie in Europa gezwungen, dasselbe zu tun, denn je länger die Amerikaner hungerten, desto dicker wurde man in Europa. Dieses panische Aushungern, das wie eine Kettenreaktion funktionierte und sich schnell zu einer Massenbewegung auswuchs, nannte man Diät. Mit den Diäten verband der Mensch die Lösung all seiner physischen und psychischen Probleme. Plötzlich lag der Schlüssel zur größten Zufriedenheit im Lebensmittelladen nebenan auf dem Gemüseregal. Die meisten Diäten des vorigen Jahrhunderts waren hart. Die berühmtesten, die sogenannte Weißweindiät (täglich hundert Milliliter Weißwein und ein Stück Hartkäse) oder die Leitungswasserdiät (drei Liter täglich, drei Tage lang)
oder die Joghurtdiät (ein linksgedrehter alle zwei Stunden) trieben die Massen reihenweise in den Wahnsinn.
Das Schlimmste, was ich bisher erlebt habe, war die Karotten-Apfel-Diät meiner Tante. Innerhalb kürzester Zeit wurde sie davon gelb im Gesicht und wirkte immer ein wenig angetrunken, weil, wie sich später herausstellte, bei der Verdauung der vielen Karotten und Äpfel im Magen eine Art Alkohol entsteht, der für einen leicht betüdelten Zustand rund um die Uhr sorgt. Ich glaube, unter dem Einfluss dieser Karotten-Apfel-Diät fing meine Tante an, Gedichte zu schreiben und trashige Nachmittagsprogramme im Fernsehen aufzunehmen.
Ein anderer Bekannter von mir, ein Taxifahrer, versuchte, wiederum mittels Karotten, mit dem Rauchen aufzuhören, indem er sich bei jeder Suchtanwandlung eine Karotte in den Mund steckte. In der ersten Zeit zündete er gelegentlich die Karotten noch aus Gewohnheit an, dann aber legte sich sein Verlangen nach Nikotin endgültig. Dafür entwickelte sich bei ihm eine starke Karottenabhängigkeit. Einmal wurde er von einer Polizeistreife angehalten – mit über zwei Promille im Blut, obwohl er nichts getrunken hatte. Auch seine Leberwerte spielten verrückt. Nur mithilfe von Zigaretten gelang es ihm schließlich,
wieder von den Karotten loszukommen. Vorher verbrachte er fast ein Jahr in einer Selbsthilfegruppe, die zum größten Teil aus magersüchtigen Mädchen bestand, die ihre Bulimie mit einer Karottendiät kaschiert hatten.
Der Mangel an Harmonie wurde erst behoben, als die Zwillingstürme in New York einstürzten, die Amerikaner daraufhin in den Irak einmarschierten und den Kampf der Kulturen ausriefen. Das hatte wiederum zur Folge, dass die Chinesen zu einer globalen Supermacht anschwollen, den Russen das Lenin-Mausoleum und den Deutschen ihren Teutoburger Wald abkauften und eine Rakete mit zwanzig Kosmonauten zum Mars schickten. Das war jedoch der Beginn einer ganz anderen Geschichte.
Agrionemys horsfieldi und andere sozialistische Schnäppchen
Es war nicht alles schlecht in der Sowjetunion. Wenn heute einer kommen und mir anbieten würde, die fünfundzwanzig Jahre im sozialistischen Moskau gegen fünfzig Jahre am Strand von Hawaii zu tauschen, würde ich ablehnen. Im Sozialismus lernte ich die Utopie als einzig mögliche Wirklichkeit kennen, die sich vor unseren Augen in eine theatralische Farce verwandelte. Anfangs sah sie sehr realistisch aus, sehr lebendig. Doch immer öfter flackerte das Licht, die Oberhäupter vergaßen den Text, die Musik wiederholte sich, plötzlich stürzte das ganze Haus zusammen,
und wir standen auf einer Bühne, die von irgendwelchen Verrückten in eine sumpfige Gegend gebaut worden war. Das Zwitschern der Vögel und der Applaus der Massen waren die ganze Zeit nur vom Band gekommen.
Eine solche Erfahrung bleibt lange haften. Es ist gut sechzehn Jahre her, doch meine Sehnsucht nach dem Utopischen hat sich nur vergrößert. Ich suche ständig danach und schreibe fleißig darüber. Und was hätte ich, bitte schön, auf Hawaii schreiben können? Eine
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