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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Lächeln auf den Lippen. Pass auf Dich auf, Mädchen, ich liebe Dich. Krilenko.«
    Weil unsere Einheit keine besonders geheimen Aufgaben zu erledigen hatte, wurde unsere Post nur oberflächlich geprüft. Die wenigen zensierten Briefe kamen für gewöhnlich mit braunem Klebstoff zugeschmiert an den Absender zurück. Insofern war es ein riesengroßer Zufall, dass ausgerechnet mein Liebesbrief an Larissa nicht durchging oder einfach zu mir zurückkam, sondern direkt beim Stab unserer Einheit auf dem Tisch des ranghöchsten Offiziers landete. Der Oberst fand den Brief so lustig, dass er beschloss, ihn der gesamten Einheit öffentlich vorzulesen:
»Unsere Panzer sind in eine Falle geraten. Ich schreibe auf dem Rücken eines gefallenen Kameraden … Mal unter uns, Sergeant Krilenko. haben Sie jemals in Ihrem Leben einen Panzer aus der Nähe gesehen?« Die ganze Einheit lachte – nur ich nicht. Unsere bescheidene Raketenabwehrstation besaß überhaupt kein Kriegsgerät und auch keine jemals gefallenen Kameraden. Wenn sie stürzten, dann nicht durch feindliche Kugeln, sondern durch maßlosen Alkoholkonsum.
    Krilenko versprach, sich in Zukunft persönlich um meine Ausbildung zu einem echten Soldaten zu kümmern, was er auch fleißig die nächsten sechs Monate bis zu seiner Entlassung tat. Nur mit Glück konnte ich dem Tod entrinnen. Seitdem schreibe ich keine Liebesbriefe mehr. Romantik ist ja gut und schön, kann einen aber unter Umständen in Teufels Küche bringen.

Die Karottendiät
    Unser Planet ist ein System sich ständig ausgleichender Defizite, nichts geschieht hier einfach so: Wir sind alle auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden. Geht einer von uns schlafen, steht sofort ein anderer auf. Heiratet jemand, lässt sich gleichzeitig jemand scheiden, und wenn irgendwer irgendwo mit dem übermäßigen Trinken aufhört, fängt irgendwo irgendwer damit an. Der ganze Planet leidet an Harmonie. Alles muss ausgewogen und gerecht geteilt werden. Hier Ebbe, dort Flut; hier Pinguine, dort Eisbären; hier Sozialismus, dort Kapitalismus. Jede Störung dieser Harmonie kann unvorhersehbare Folgen haben.

    Zur Zeit des Kalten Krieges zum Beispiel waren die Russen in ihrer Mehrheit an den Seiten mollig gerundet, aber versklavt. Die Amerikaner fühlten sich dagegen fit und frei. Doch kaum brach der russische Sozialismus zusammen, kamen die Amerikaner durcheinander. Ihre Gesellschaft teilte sich sofort in drei Teile auf, zwei Teile wurden übergewichtig, ein Teil sitzt im Knast. Die Russen dagegen nahmen rapide ab, kaum waren sie so frei, das zu tun, was im Kapitalismus zu tun ist, nämlich Geld zu verdienen und auszugeben.
    Anfangs war der Kapitalismus in Russland großes Kino und sehr erfrischend nach einer siebzigjährigen planwirtschaftlichen Sozialismusroutine. Die Neukapitalisten teilten das Land unter sich auf, die Bevölkerung schaute zu und bekam noch leckere Chips und Limonade zum Naschen dazu. Es war tatsächlich wie in einem Multiplex-Kino, in dem ein lang erwarteter Film lief, von dem man schon viel gehört, den man aber noch nicht gesehen hat. Der Film erwies sich jedoch als ganze Serie. Und man merkte schnell, dass sich die Witze gelegentlich wiederholten, dass dieselben Figuren immer dieselben Phrasen von sich gaben und sich ständig die gleichen Skandale mit dem gleichen Ausgang ereigneten. Selten geschah einmal etwas wirklich Spannendes. Und so
begann die Bevölkerung, sich im Kapitalismus zu langweilen.
    Das kann doch nicht alles sein, dachten die Menschen und wollten raus aus dem Kino an die frische Luft. Das ging aber nicht mehr. Das Kino war überall und allgegenwärtig. Chips und Limonade wurden zu offiziellen Grundnahrungsmitteln des neuen Zeitalters. Die Harmonie war weg, weil die Welt nach dem Zerfall des sozialistischen Lagers aus der Balance geraten war und immer unübersichtlicher wurde. Gleichzeitig mit der Erfindung von Antidepressiva wurden die Menschen immer öfter depressiv, viele liefen Amok, gingen zur Arbeit und kamen nicht wieder.
    Man suchte nach alternativen Lösungen. Der Buddhismus versprach inneres Gleichgewicht rund um die Uhr, mehrere Reinkarnationen inklusive, und gewann Millionen neue Anhänger. Die Menschen legten ihre Arbeit nieder und meditierten stundenlang. Zu Hause hockten sie auf aufblasbaren Bällen, die es in allen Größen und Farben in speziellen Geschäften für Harmonie zu kaufen gab. Bald konnte fast niemand mehr ruhig auf normalen Stühlen sitzen, und die Menschen

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