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Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Titel: Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord Kostenlos Bücher Online Lesen
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nächsten Tag dasselbe. Diagnose: Nicht übertreiben, wechseln, sobald sich was Besseres findet.«
    Das alles war aber nicht der Grund, weshalb Adamsberg Christiane heute abend nicht gebrauchen konnte. Vielleicht lag es an dem Blick des jungen Mädchens in der Post. Vielleicht, weil er Christiane angetroffen hatte, während sie auf ihn wartete und sicher war, daß er lächeln würde, sicher, daß er seine Tür öffnen würde, daß er sein Hemd öffnen würde und dann sein Bett, sicher, daß sie am nächsten Morgen den Kaffee machen würde. Sicher. Und Adamsberg brachten Sicherheiten, die andere auf ihm abluden, um. Sie verursachten bei ihm ein nicht zu unterdrückendes Bedürfnis, zu enttäuschen. Und dann hatte er in letzter Zeit ein bißchen zuviel an den kleinen Liebling gedacht, und das bei der geringsten Kleinigkeit. Vor allem heute nachmittag war ihm beim Umherlaufen klargeworden, daß er sie jetzt neun Jahre nicht mehr gesehen hatte. Neun Jahre, meine Güte! Und plötzlich hatte er das nicht normal gefunden. Und er hatte Angst bekommen.
    Bis dahin hatte er sie sich immer vorgestellt, wie sie die Welt auf dem Schiff eines holländischen Seemanns, dann auf dem Kamel eines Berbers durchmaß, wie sie sich unter den Ratschlägen eines Peul-Kriegers im Werfen übte, später dann, wie sie im Café des Sports et des Artistes in Belleville drei Croissants aß, dann wieder, wie sie die Kakerlaken in einem Hotelbett in Kairo verjagte.
    Und heute hatte er sich vorgestellt, daß sie tot sei.
    Das hatte ihn derartig gepackt, daß er angehalten hatte, um mit glühender Stirn und Schweißperlen an den Schläfen einen Kaffee zu trinken. Er sah sie tot vor sich, seit einiger Zeit schon, ein verwester Leichnam unter einer Steinplatte, und in ihrem Grab neben ihr das Bündelchen Knochen von Richard III.. Er hatte den Kameltreiber, den Speerwerfer der Peul, den holländischen Seemann und den Pächter des Cafés in Belleville zu Hilfe gerufen. Er hatte sie angefleht, zurückzukommen und wie gewöhnlich vor seinen Augen zum Leben zu erwachen, die Marionetten zu spielen und diesen Grabstein zu vertreiben. Aber die vier Dreckskerle waren unauffindbar geblieben. Sie überließen der Angst das Feld. Tot tot tot. Camille tot. Natürlich tot. Und solange er sich vorstellen konnte, daß sie lebte, selbst wenn sie ihn so sehr betrog, wie er sie betrogen hatte, selbst wenn er sie aus all seinen Gedanken wegzauberte, ja selbst wenn sie die Schultern des Hotelboys in ihrem Hotelbett in Kairo streichelte, nachdem dieser die Kakerlaken verscheucht hatte, selbst wenn sie alle Wolken Kanadas fotografierte - denn Camille sammelte Wolken mit menschlichem Profil, die alles in allem ziemlich schwer zu finden sind -, und selbst wenn sie sogar sein Gesicht und seinen Namen vergessen hatte - selbst dann: Wenn Camille sich irgendwo auf der Welt rührte, dann war alles gut. Aber wenn Camille irgendwo auf der Welt tot war, wurde das Leben erdrückend. Wenn Camille tot war, Camille, der unwahrscheinliche Sprößling eines griechischen Gottes und einer ägyptischen Prostituierten (wie er sich ihre Abstammung vorgestellt hatte), lohnte es sich vielleicht gar nicht mehr so sehr, morgens loszurennen und den Tag über herumzuhetzen. Es lohnte sich vielleicht nicht mehr so sehr, sich herumzuärgern und Mörder zu jagen, herauszufinden, wie viele Stück Zucker man in seinen Kaffee will, mit Christiane zu schlafen, alle Steine aller Straßen anzusehen, wenn Camille nicht mehr an irgendeinem Ort das Leben um sich herum weit machte mit ihrem Ernst und ihrer Flüchtigkeit, der Ernst auf ihrer Stirn und die Flüchtigkeit auf ihren Lippen, die sich zu einer Acht schlossen, die die Unendlichkeit andeutete. Wenn Camille tot war, verlor Adamsberg die einzige Frau, die ihm eines Morgens leise gesagt hatte: »Jean-Baptiste, ich fahre nach Ouahigouya. Das liegt an den Quellen des Weißen Volta.« Sie hatte sich von ihm gelöst, sie hatte gesagt: »Ich liebe dich«, sie hatte sich angezogen und war hinausgegangen. Brot kaufen, hatte er gedacht. Der kleine Liebling war nicht zurückgekommen. Neun Jahre. Er hätte gar nicht sehr gelogen, wenn er gesagt hätte: »Ich habe Ouahigouya gut gekannt, ich habe sogar einige Zeit dort gelebt.«
    Und nun war Christiane da und war sich sicher, daß sie morgen früh den Kaffee machen würde, während der kleine Liebling irgendwo verreckt war, ohne daß er dagewesen wäre, um irgend etwas zu tun. Und so würde er eines Tages verrecken, ohne

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