Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord
mißtönende Stimme der Alten gab ihm ein Gefühl der Wirklichkeit zurück, die Vorstellung, daß er irgend etwas tun sollte, bevor es ihm völlig gleichgültig wurde, zu verrecken. Mathilde war nach Hause gekommen. Er wollte sie sehen, aber nicht bei ihr. Er bestellte sie für fünf Uhr in sein Büro.
Ganz unerwarteterweise war Mathilde pünktlich. Sie war selbst darüber erstaunt.
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Das muß der ›Polizeieffekt‹ sein, vermute ich.«
Dann sah sie Adamsberg an, der nicht kritzelte und mit ausgestreckten Beinen, eine Hand in der Hosentasche, die andere mit einer brennenden Zigarette zwischen den Fingern, in eine derart diffuse Unbekümmertheit zu zerfallen schien, daß man nicht wußte, wie man ihn hätte packen können. Aber Mathilde hatte das Gefühl, daß er durchaus in der Lage wäre, seine Arbeit zu tun, sogar auf diese Weise oder vor allem auf diese Weise.
»Ich glaube, wir werden uns weniger amüsieren als das letzte Mal«, sagte Mathilde.
»Ja, vielleicht«, erwiderte Adamsberg.
»Es ist lächerlich, daß Sie mir diese ganze Zeremonie mit der Vorladung in Ihr Büro aufdrücken. Sie hätten besser daran getan, in den Fliegenden Knurrhahn zu kommen, da hätten wir was getrunken, und dann hätten wir zu Abend gegessen. Clémence hat ein ekelhaftes Gericht gekocht, ein Rezept aus der Gegend, aus der sie kommt.«
»Wo stammt sie her?«
»Aus Neuilly.«
»Aha. Das ist nicht gerade exotisch. Aber ich drücke Ihnen keine Zeremonie auf. Ich muß mit Ihnen reden und habe keine Lust, Bestandteil des Fliegenden Knurrhahns zu werden oder wovon auch immer Sie wollen.«
»Weil ein Polizist nicht mit seinen Verdächtigen zu Abend essen darf?«
»Doch, doch, im Gegenteil«, sagte Adamsberg mit müder Stimme. »Vertraulichkeit mit Verdächtigen gehört sogar zu den empfohlenen Dingen. Aber bei Ihnen herrscht ein ewiges Kommen und Gehen. Blinde, verrückte Alte, Studenten, Philosophen, Nachbarn von oben, Nachbarn von unten, man ist Höfling der Königin oder gar nichts, glauben Sie nicht? Und ich möchte weder Höfling noch gar nichts sein. Außerdem weiß ich nicht mal, warum ich das sage, im Grunde hat es keinerlei Bedeutung.«
Mathilde lachte.
»Verstanden«, sagte sie. »Künftig treffen wir uns also im Café oder auf den Brücken von Paris, an den neutralen Orten, wo Gleichheit herrscht. Wie zwei brave Republikaner. Darf man jetzt eine rauchen?«
»Man darf. Den Artikel aus diesem Blättchen vom 5. Arrondissement kennen Sie, Madame Forestier?«
»Ich habe noch nie von diesem Dreck gehört, bevor Charles ihn mir heute mittag aus dem Gedächtnis wiedergegeben hat. Und mich an das erinnern zu wollen, womit ich möglicherweise im Dodin Bouffant angegeben habe, ist verlorene Müh. Alles, was ich bestätigen kann: Wenn ich getrunken habe, übersteigt meine Phantasie meine Realität um das Dreißigfache. Daß ich vielleicht erzählt habe, daß der Mann mit den Kreisen mein Abendessen mit mir teilt, womöglich auch meine Badewanne und mein Bett, und daß wir gemeinsam seine dummen nächtlichen Spaße vorbereiten würden, scheint mir nicht ausgeschlossen. Wenn ich verführen will, ist mir nichts gut genug. Stellen Sie sich mal vor. In manchen Momenten verhalte ich mich wie eine echte Naturkatastrophe, sagt ein Philosophenfreund von mir.«
Adamsberg verzog das Gesicht.
»Es fällt mir schwer zu vergessen, daß Sie Wissenschaftlerin sind. Ich glaube nicht, daß Sie so unberechenbar sind, wie Sie gerne wären.«
»Dann habe ich also Madeleine Châtelain die Kehle durchgeschnitten, Adamsberg? Stimmt, für den Abend habe ich kein vorzeigbares Alibi. Niemand beaufsichtigt mein Kommen und Gehen. Derzeit kein Mann in meinem Bett, kein Hausmeister an der Tür. Frei wie der Wind, leicht wie die Mäuse. Sagen Sie mir, was die arme Frau mir getan haben soll?«
»Jedem seine Geheimnisse. Danglard würde dazu bemerken, da Sie Tausenden von Leuten folgen, müßte Madeleine sicher irgendwo in Ihren Notizen auftauchen.«
»Möglich.«
»Er würde hinzufügen, daß Sie in Ihrem Unterwasserleben zwei Blauhaien den Bauch aufgeschlitzt haben. Entschlossenheit, Mut, Kraft.«
»Nun hören Sie mal, Sie werden sich doch nicht hinter den Argumenten anderer verstecken, um anzugreifen? Danglard hier, Danglard da. Und was ist mit Ihnen?«
»Danglard ist ein Denker. Ich höre ihm zu. Was mich angeht, so ist mir nur eines wichtig: der Mann mit den Kreisen und seine verdammte Beschäftigung.
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