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Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Titel: Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord Kostenlos Bücher Online Lesen
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Nichts anderes erregt meine Neugier. Wissen Sie irgend etwas über Charles Reyer? Unmöglich herauszufinden, wer von Ihnen beiden den anderen gesucht hat. Man könnte meinen, Sie wären es gewesen, aber auch er könnte sich Ihnen aufgedrängt haben.«
    Nach einem kurzen Schweigen sagte Mathilde:
    »Glauben Sie wirklich, daß ich mich so leicht manipulieren ließe?«
    Wegen ihres veränderten Tonfalls unterbrach Adamsberg sein Kritzeln. Mathilde durchbohrte ihn mit ihrem Blick lächelnd, strahlend und großmütig, aber selbstsicher und königlich, als könne sie sein Büro und die Welt mit ihrem schlichten Spott auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Daher redete er langsam und ging das Wagnis der neuen Ideen ein, die Mathildes Blick in ihm auslöste. Mit einer Hand an der Wange sagte er:
    »Als Sie zum erstenmal hier ins Kommissariat kamen, war nicht die Suche nach Charles Reyer der Grund dafür, nicht wahr?«
    Mathilde lachte.
    »Doch. Ich habe ihn gesucht! Aber ich hätte ihn ohne Ihre Hilfe ausfindig machen können, das wissen Sie.«
    »Natürlich. Ich war blöd. Aber lügen tun Sie herrlich. Also? Was spielen wir? Wen haben Sie gesucht, als Sie hierher kamen? Mich?«
    »Sie.«
    »Einfach Neugier, weil die Zeitungen meine Berufung veröffentlicht hatten? Wollten Sie mich zu Ihren Notizen hinzufügen? Nein, das ist es nicht, nein.«
    »Nein, natürlich nicht«, sagte Mathilde.
    »Um mir von dem Mann mit den Kreisen zu erzählen, wie Danglard vermutet?«
    »Nicht mal das. Ohne die Artikel, die unter dem Fuß Ihrer Lampe klemmten, hätte ich nicht daran gedacht. Sie brauchen mir das nicht zu glauben, jetzt, wo Sie wissen, daß ich lüge wie gedruckt.«
    Adamsberg schüttelte den Kopf. Er hatte das Gefühl, in einer schwierigen Situation zu sein.
    »Ich hatte einfach einen Brief erhalten«, fuhr Mathilde fort, »›Ich erfahre gerade, daß Jean-Baptiste nach Paris berufen wurde. Bitte sieh nach ihm.‹ Also bin ich hergekommen, das ist ganz natürlich. Es gibt keine Zufälle im Leben, das wissen Sie selbst.«
    Mathilde zog lächelnd an ihrer Zigarette. Sie amüsierte sich gut. Sie genoß ihre Phase.
    »Erzählen Sie zu Ende, Madame Forestier. Ein Brief von wem? Von wem reden wir?«
    Mathilde stand auf und lachte noch immer.
    »Von unserer schönen Herumtreiberin. Die sanfter ist als ich, scheuer, weniger verkommen und weniger klapprig. Meine Tochter. Camille, meine Tochter. Aber in einem Punkt hatten Sie recht, Adamsberg: Richard III. ist tot.«
    Adamsberg konnte danach nicht mehr sagen, ob Mathilde sofort gegangen war oder etwas später. So ernüchtert er in diesem Moment auch gewesen sein mochte, etwas, ein einziges hatte in seinem Kopf widergehallt: noch am Leben. Camille war noch am Leben. Der kleine Liebling war irgendwo, wurde von irgend jemandem geliebt, aber atmete, mit eigensinniger Stirn, geschwungener Nase, zarten Lippen, ihrer Klugheit, ihrer Bedeutungslosigkeit, ihrer Silhouette - alles am Leben.
    Erst später, als er auf dem Weg nach Hause die Straße entlangging, - er hatte an diesem Abend mehrere Männer an den Metrostationen Saint-Georges und Pigalle postieren lassen, ahnte jedoch, daß das nichts ergeben würde -, wurde ihm bewußt, was er gerade erfahren hatte. Camille war die Tochter von Mathilde Forestier. Natürlich. So sehr Mathilde es auch liebte, andere in die Irre zu führen - das mußte nicht überprüft werden. Ein solches Profil gab es nicht in tausendfacher Ausführung.
    Kein Zufall. Irgendwo auf der Erde hatte der kleine Liebling die französische Presse gelesen, von seiner Berufung erfahren und der Mutter geschrieben. Vielleicht schrieb sie ihr häufig. Oder vielleicht sahen sie sich sogar häufig. Vielleicht stimmte Mathilde die Ziele ihrer wissenschaftlichen Expeditionen auf die Orte ab, an denen sich ihre Tochter aufhielt. Das war sogar sicher. Er mußte nur herausfinden, an welchen Küsten sie all die letzten Jahre angelegt hatte, um herauszufinden, wo sich Camille herumgetrieben hatte. Also hatte er recht gehabt. Sie trieb sich herum, verloren, nicht zu fassen. Nicht zu fassen. Das wurde ihm klar. Er würde sie nie mehr zu fassen kriegen. Und doch hatte sie erfahren wollen, was aus ihm wurde. Er war in Camilles Gedanken nicht wie Wachs dahingeschmolzen. Aber das hatte er auch nie richtig bezweifelt. Nicht, daß er sich für unvergeßlich hielt. Aber er spürte, daß ein Stück von ihm sich wie ein kleiner Stein in der Tiefe von Camille festgesetzt hatte und daß sie dadurch

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