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Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Titel: Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord Kostenlos Bücher Online Lesen
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Analyse. Das ist alles, woran mich der Mann mit den Kreisen und sein Mord denken läßt, von dem ich übrigens fast nichts weiß außer über Mathilde, die viel zuviel davon redet.«
    Réal band die Schleifen seiner Schuhe neu.
    Adamsberg merkte, daß Réal Louvenel sich bemüht hatte, seine Sprache seinem Gesprächspartner anzupassen. Er war ihm deshalb nicht böse. Nicht einmal so war er sich sicher, genau verstanden zu haben, was dieser fieberhafte Mann unter Wahrnehmung seiner selbst verstand, ganz offensichtlich sein Leitbegriff. Aber während er ihm zuhörte, hatte er unvermeidlich an sich selbst gedacht, das mußte allen so gehen. Und er hatte gespürt, daß er sich in Ermangelung einer Beobachtung »wahrnahm«, vielleicht genau in dem Sinne, wie Louvenel es verstand. Er wußte, daß diese Wahrnehmung seines Existierens bisweilen geradezu einer Höhlenwanderung glich, bei der die Stiefel im Schlamm steckenblieben, wo man keinerlei Antwort fand und physischen Mut brauchte, um das alles nicht weit von sich zu weisen. Aber er wies es nicht von sich, wenn es kam, denn er wußte genau, daß eine solche Reaktion ihn dazu verurteilt hätte, überhaupt nichts mehr zu sein.
    Jedenfalls machte der Typ mit der blauen Kreide offenbar niemandem Sorgen. Aber Adamsberg ging es nicht darum, ob jemand seine Befürchtungen teilte oder nicht. Das war allein seine Sache. Er überließ Louvenel seinen Zuckungen, die sich nach der Einnahme einer ovalen kleinen, gelben Tablette stark beruhigt hatten. Adamsberg empfand einen heftige Argwohn gegenüber Medikamenten, er hatte lieber einen ganzen Tag Fieber, als auch nur den Krümel eines Medikaments zu schlucken. Seine kleine Schwester hatte ihm gesagt, es sei sehr anmaßend, immer darauf zu hoffen, allein damit fertig zu werden, und man verlöre auf dem Boden eines Aspirinröhrchens nicht unweigerlich seine Identität. Kaum vorstellbar, wie sehr seine kleine Schwester ihn manchmal nerven konnte.
     
    ***
    Im Kommissariat traf Adamsberg Danglard in ziemlich zerstörtem Zustand an. Er hatte Gesellschaft gefunden, um seinen Nachmittags-Weißwein anzugehen, und das hatte ihn in seinem täglichen Ritual ordentlich vorangebracht. Mathilde Forestier und der schöne Blinde saßen wie in einem Bistrot an seinem Schreibtisch, die Ellbogen aufgestützt, und gossen sich aus Plastikbechern gehörig einen hinter die Binde. Das war geräuschvoll.
    Mathildes schöne Stimme übertönte alles, und Reyer wandte sein Gesicht nicht von der Königin ab; er schien zufrieden zu sein. In Gedanken zollte Adamsberg dem bemerkenswert schönen Profil des Blinden erneut Respekt, ärgerte sich aber darüber, daß der Mann, wenn man so sagen konnte, Mathilde mit begehrlichen Blicken ansah. Was ärgerte ihn eigentlich daran? Der Eindruck, daß der Blinde auf Mathilde hereinfallen würde? Nein. Mathilde war nicht so gewöhnlich, solche Machtspielchen mit Verschlingen des Schwächeren waren ihre Sache nicht. Wenn sich allerdings eine Hand auf Mathilde legte, sah er unschwer auch eine Hand, die sich gleichzeitig auf Camille legte. Aber nein. Das verquickte er nicht. Und alle Welt hatte das Recht, Camille zu berühren, daraus hatte er sich seit langem einen heilsamen Grundsatz gemacht. Oder war es, weil auch Danglard sich auf das Spiel einzulassen schien, er, der, was Mathilde anging, so kategorisch gewesen war? Am Tisch herrschte eine Art Wettrennen zwischen den beiden Männern, es roch nach den tausendfach wiederholten Spielen der Verführung, und es war nicht zu übersehen, daß Mathilde bei allem, was sie bereits an Weißwein getrunken haben mochte, für diese Atmosphäre nicht unempfänglich war. Aber schließlich hatte sie ein Recht darauf. Und auch Danglard und Reyer hatten das Recht, die jungen Männer zu spielen, wenn ihnen danach war. Was stach ihn eigentlich, plötzlich den Zensor zu spielen und die Regeln der Kunst festzusetzen? War er etwa besonders kunstvoll mit der Nachbarin von unten umgegangen, bei der er geschlafen hatte? Nein, ganz und gar nicht kunstvoll. Wenn er auch - zweckmäßigerweise ein wenig bewegt - seine Worte wohlüberlegt gesetzt hatte, nach Regeln, die er als verläßlich kannte. War er kunstvoll mit Christiane gewesen? Schlimmer noch. Wobei ihm plötzlich einfiel, daß er natürlich nicht daran gedacht hatte, daran zu denken. Da konnte er auch gleich was mit den anderen trinken. Und sich fragen, was sie eigentlich hier machten. Wenn man genauer hinsah, war Danglard von den Reizen seiner

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