Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord
wäre, daß er aufhören würde, sie bis zu ihren entferntesten Grenzen und bis zu den nicht mal mehr im Himmel sichtbaren Punkten verstehen zu wollen. Daß er weniger müde wäre. Aber nur der Weißwein bewirkte bei ihm diesen kurzen und, wie er wußte, künstlichen Verfremdungseffekt.
***
Wie Adamsberg gehofft hatte, war Mathilde nicht zu Hause. Er stieß auf die alte Clémence, die über einen Tisch voller Dias gebeugt war. Auf einem Stuhl neben ihr lag die Zeitung, aufgeschlagen auf der Seite mit den Kontaktanzeigen.
Clémence war zu geschwätzig, als daß sie Zeit gehabt hätte, eingeschüchtert zu sein. Sie kleidete sich, indem sie Nylonblusen übereinander trug wie Zwiebelschalen. Auf dem Kopf hatte sie die schwarze Baskenmütze, im Mund eine Armeezigarette. Sie machte beim Reden kaum den Mund auf, so daß man nur selten das berühmte Gebiß sah, das Mathilde mit Freude für ihre zoologischen Vergleiche heranzog. Clémence war weder schüchtern noch verletzlich, weder autoritär noch sympathisch und eine so irritierende Figur, daß man nicht umhinkonnte, ihr ein bißchen zuhören zu wollen, um herauszufinden, was wohl jenseits all der Banalitäten, die sie wie Barrikaden auftürmte, ihre Energie leiten mochte.
»Waren die Kontaktanzeigen gut heute morgen?« fragte Adamsberg.
Clémence warf ihm einen skeptischen Blick zu.
»Man kann sich immer noch etwas von der folgenden erhoffen: Ruhiger Rentner mit Häuschen sucht Lebensgefährtin unter 55 mit Gefallen an Kupferstichsammlung aus dem 18. Jh., aber mir sind Kupferstiche schnurz, oder von dieser: Pensionierter Geschäftsmann möchte mit noch hübscher Frau Leidenschaft für Natur und Freude an Tieren teilen, und noch mehr bei Zuneigung, aber mir ist die Natur schnurz. Jedenfalls kann man sich nie darin wiederfinden. Sie schreiben alle dasselbe und nie die Wahrheit: Alter Mann schlecht in Form mit Bauch Interesse nur an sich selbst sucht junge Frau, um mit ihr zu schlafen. Es ist traurig, daß die Leute nie die Wahrheit schreiben, man verliert unglaublich viel Zeit damit. Gestern habe ich mich mit dreien getroffen und den Abschaum der gescheiterten Existenzen aufgelesen. Weshalb aber alles immer platzt, ist, daß ich ihnen äußerlich nicht gefalle. Da ist die Sackgasse. Was tun, frage ich Sie?«
»Fragen Sie mich? Und warum wollen Sie um jeden Preis heiraten?«
»Die Frage stelle ich mir nicht. Man könnte sagen, die arme alte Clémence hat es nicht verwunden, daß ihr Verlobter verschwunden ist und nur eine kurze Nachricht hinterlassen hat. Aber nein. Allmächtiger, das war mir völlig schnurz in dem Augenblick, ich war zwanzig, und es ist mir noch immer schnurz. Ich mag die Männer nicht besonders, muß ich Ihnen sagen. Nein, es ist, damit ich irgendwas zu tun habe im Leben. Und mir fällt nichts anderes ein. Außerdem habe ich den Eindruck, daß fast alle Frauen so sind. Im großen und ganzen mag ich die Frauen auch nicht besonders. Sie denken so wie ich, daß die Sache geritzt ist, wenn sie heiraten, daß sie dann was machen mit ihrem Leben. Ich gehe sogar zur Messe, stellen Sie sich vor. Wenn ich mich nicht zu all dem zwingen würde, was würde dann aus mir? Ich würde stehlen, plündern, spucken. Und Mathilde sagt, ich bin nett. Besser nett bleiben, das macht weniger Ärger, nicht wahr?«
»Und Mathilde?«
»Ohne sie stünde ich immer noch an der Station Censier-Daubenton und würde auf den Messias warten. Mir geht es gut mit ihr. Ich würde vieles tun, um Mathilde angenehm zu sein.«
Adamsberg versuchte nicht, sich in diesen widersprüchlichen Sätzen zurechtzufinden. Mathilde hatte gesagt, daß Clémence eine Stunde lang Blau sagen könne und die darauffolgende Stunde lang Rot, und daß sie ihr gesamtes Leben ganz nach Geschmack und ganz nach Gesprächspartner neu erfinden könne. Man hätte jemanden gebraucht, der kaltblütig genug wäre, um Clémence monatelang zuzuhören und sie dann vielleicht ein bißchen klarer zu sehen. Verdammt kaltblütig. Einen Psychiater, hätten andere gesagt. Aber selbst dafür wäre es zu spät. Alles schien zu spät für Clémence, das war offensichtlich, aber Adamsberg gelang es nicht, irgendwelchen Kummer darüber zu empfinden. Clémence war vielleicht nett, vielleicht, aber so wenig anrührend, daß er sich fragte, wo Mathilde das Bedürfnis hernahm, sie im Stichling zu beherbergen und für sich arbeiten zu lassen. Wenn hier jemand gut war, im grundlegenden Sinn des Wortes, dann war es Mathilde.
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