Es geht uns gut: Roman
Band aus blaugrauer Flüssigkeit.
Ein Spaziergänger am anderen Ufer wirft für seinen Hund einen Stock ins Wasser. Philipp folgt dem Hund mit dem Blick, dann ist der Wagen vorbei, in der nächsten Kurve.
Peter sagt:
– Philipp, ich würde mich über eine Geschichte von dir freuen.
Der Wagen setzt über einen der Straßenkämme, es geht leicht bergab. Peter schaltet sinnlos einen Gang tiefer und wieder rauf. Er späht die Straße hinunter, ehe er mit einem schnellen Blick über die Schulter seinen Sohn ins Visier nimmt. Woran Philipp in diesem Augenblick denkt? Peter könnte es nicht sagen. Still und in sich gekehrt lehnt der Bub seitlich an der Tür. Könnte auch sein, daß sich hinter Philipps Träumen konzentrierte Wachsamkeit verbirgt. Peter hört das Gummiband gegen Sissis linkes Handgelenk schnellen. Er kann regelrecht hören, daß es schmerzt. Er denkt: Gleich wird die Stichelei weitergehen. Ich sollte die beiden ein wenig beschäftigen.
Vorschlag an die Nachkommenschaft:
– Ihr könntet was singen. Na? wie wär’s? Zur Hebung der allgemeinen Moral. Was ist? ja? ja? na, so was! das freut mich … aber … aber … das lobe ich mir.
Der Bub wagt sich vor, nichts Besonderes, klar, aber immerhin: Wann wird’s mal wieder richtig Sommer, ein Sommer wie er früher einmal war . Es ist ein einfaches Lied über Sonnenbrände, die man sich im heimischen Freibad holen konnte, über Wasserrationierungen und die Hoffnung, daß es auch in Zukunft wieder Hitzewellen geben wird, mitsonnenscheinvonjunibisseptember. Kein Wort von Liebe, gebrochenen Herzen oder dem Wunsch nach Freiheit in einer gottlosen Ferne. Ein lustiges und einfaches Lied. Philipp singt es langsam und sanft (sanft wie der sommerliche Fluß mit seinem trübblauen Wasser), und obwohl Philipp den rachenkranken Akzent von Rudi Carrell nicht ohne Charme imitiert, klingt es mehr wie eine Moritat.
Als er zu Ende gesungen hat, sagt Sissi:
– Es ist ein schöner Sommer, ich weiß nicht, was du hast.
– Aber nicht wie früher.
– Wann war früher?
– Früher halt.
– Wann früher?
– Als wir mit Mama in Venedig waren.
Die Male, daß die Kinder Ingrid erwähnen, unvermittelte Sätze wie dieser, werden von Jahr zu Jahr weniger, und auch der Schmerz läßt nach, den diese Sätze aus einem stillen Gären wecken. Peter weiß noch, wie erschrocken es ihn anfangs machte, wenn eines der Kinder am Küchentisch sagte:
– Das erste Mal, daß wir Apfelfleckerln ohne Mama essen.
Dabei brachen die Kinder keineswegs immer in Tränen aus, sie sagten diese Sätze meist beiläufig, so dahin, wie soll man es ausdrücken, als bedauernde Hinweise darauf, wie sehr sich die Dinge verändert hatten, in einer Kettenreaktion, die unendlich viele Details erreichte. Die Kinder machten diese Bemerkungen, weil sie darin eine Möglichkeit erkannt hatten, an das Vorleben mit Ingrid anzuknüpfen, ex negativo: Wir tun es, und Mama tut es nicht mehr.
Ingrid. Dieser wunderbare, vom Tod so weit entfernte Mensch. Sie hatten gerade einen Urlaub in Venedig hinter sich, dort fanden sie ohne Schwierigkeiten zu Fuß auf die Piazza San Marco, weil sie als Markierung die von Millionen Händen glattpolierten Straßenecken und Brückengeländer verwendet hatten. Ingrids Idee.
Dann ein Sonntag. Es ist der letzte Tag, bevor für Ingrid die Arbeit am Krankenhaus wieder losgeht. Sie packt die Badesachen und die Kinder in ihren Wagen. Eine jüngere Arztkollegin, deren Mann ein Motorboot besitzt, hat zum Schwimmen eingeladen. Ingrid trägt den roten Bikini, den Peter ihr in Italien auf einem Straßenmarkt gekauft hat, sie lacht und genießt das Licht, das träge Fließen der Donau, das Leben. Noch immer ist sie vom Tod weit, weit entfernt, und doch nur, wie jeder, durch einen Zufall von ihm getrennt. Sie sagt, wie wunderbar dieser Tag sei, sie springt von der Bugspitze, taucht unter, es spritzt über ihren Füßen, das Wasser schließt sich, und Ingrid kommt nicht mehr hoch, eine Minute, zwei Minuten, so schnell geht das, so leicht stirbt sich’s, keine Bewegung, kein Laut entsteigt dem Wasser, du sollst die Donau nicht duzen, auch in schönen Wassern kann man ertrinken. Wie? Was los ist? Ihr Armband hat sich an einem halb in den Kiesgrund eingeschwemmten Fahrrad verhakt, sie zerrt, statt aus dem Armband zu schlüpfen, wie oft hat sie den Reifen achtlos abgestreift vor dem Schlafengehen, wie oft, am Bettrand sitzend, dabei redend, nicht hinsehend, sie hat Hämatome am Armgelenk,
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