Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es geht uns gut: Roman

Es geht uns gut: Roman

Titel: Es geht uns gut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
Vom Netzwerk:
die Fingernägel der anderen Hand brechen, die Muskelfasern in ihrer Schulter reißen, sie zerrt, der Armreifen verbiegt sich, aber er hält, ein ums andere Mal. Und Ingrid: Schluckt Donauwasser, sie bekommt das Wasser in die Lunge, sie hustet, unter Wasser kann man nicht gut husten, sie ist Ärztin, sie weiß, das macht es nicht besser, unter Wasser kann man nicht gut husten, sie weiß, daß man sterben muß, wenn man Wasser in der Lunge hat, sie will nicht sterben, sie will nicht, sie hängt am, sie zerrt, sie schlägt, sie hängt, wenn der Armreifen jetzt bräche, ja, sie würde bestimmt, laß los, nach oben, wenn der Armreifen jetzt, sie würde es bestimmt noch, sie hängt am, nein, doch, laß los, aber nein, sie würde es bestimmt noch schaffen, sie hängt am Leben, laß los.
    Jetzt die erschreckende Wirklichkeit: Ist nicht nur der ruhig nach der Strömung sich ausrichtende Körper und das zur Seite treibende offene Haar, ist nicht nur die letzte Luftblase, die den Weg aus Ingrids Lunge findet und zur Oberfläche steigt, um sich dort einen Moment als glitzernde Kuppel auf dem ruhig dahinziehenden Wasser aufzurichten und zu vergehen. Es ist auch das, was sich an Deck des Bootes und im Wasser ringsum abspielt, wo das Leben (wovon die Schlagerdichter singen) weitergeht. Der Mann der Kollegin taucht nach Ingrid, bis er ebenfalls Wasser in den falschen Hals bekommt. Seine Frau feuert ab, was der Kasten mit den Rettungsmitteln hergibt, Signalpistole, Leuchtmunition. Die Frau setzt eine Boje, sie wirft den Rettungsring ins Wasser, der davontreibt, donauabwärts. Sissi ruft nach ihrer Mutter, wohl zwanzigmal, und die Stimme verhallt, Mama, Mama, vom Flußwind verweht, das Mädchen, Sissi, müßte den Mund unter Wasser halten, nein, tut sie nicht, dort kauert sie, sie ist dreizehn, auf einer der schmalen Plastikbänke, Sissi, mit dem Kopf zwischen den Knien, den Händen über dem Kopf, sie weint. Und Philipp: Er schaut übers Wasser, er wartet, daß seine Mutter hochkommt, daß seine Mutter ihnen lachend eine lange Nase macht, daß sie ihnen das Schilfrohr zeigt, das sie zum Atmen verwendet hat, wie im Western, John Wayne, Rio Lobo , Philipp hat den Film gemeinsam mit seinem Vater gesehen, er zählt bis hundert, Mama, du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt, das ist schon gar nicht mehr lustig, dann fängt er wieder von vorne an … siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig –.
    Es heißt, wenn man den Kopf in die Donau steckt, die Donau, die jeden Tag eine andere ist, dann höre man ein singendes Geräusch, das angeblich von den Kieseln auf dem Stromgrund kommt, die vom Wasser langsam vorwärts und übereinander geschoben werden.
    Durch einen unglaublichen Zufall, einen absolut dummen Zufall.
    Und Peter wünschte, daß Ingrid zurückkäme, um zu sehen, wie er sich hält, denn er hält sich ganz gut, findet er, ja, seit die Anfangszeit überstanden ist, damals, als er wie mit einer Bleiweste lebte und den Kindern vor lauter Zeitdruck die Hausaufgaben diktierte, so daß Sissi irgendwann sagte:
    – Papa, ich glaube, dir geht deine Schulzeit ab.
    Und er wünschte, daß Ingrid zurückkäme, um ihm beizupflichten, wie gut sie es jetzt haben könnten, denn seither ist vieles geschehen und anders geworden, die Zeit hat so manches geregelt.
    Und er wünschte, daß sie wieder eine Familie wären und die Welt so schön wie in einem Album, daß die Bäume im Garten blühten, und die Sonnenuntergänge eine einzige Pracht wären und daß sie gemeinsam gute Bücher läsen und die Kinder stolz wären und gerne nach Hause kämen.
    Und er wünschte, daß Ingrid neben ihm am Beifahrersitz säße, wo jetzt der Fotoapparat und die Schmalfilmkamera liegen, und daß sie zwischendurch ihre Hand auf seinen Oberschenkel legte und mit den Fingern leichten Druck ausübte.
    Und er wünschte, daß sie glücklich wären bis ans Lebensende, er bildet sich ein oder ist überzeugt, daß sie glücklich sein könnten, er denkt das sehr oft, düster, schmerzhaft, undeutlich, ja, denken kann man vieles, es kostet nichts.
    Es kostet nichts.
    Denn es ist nicht so, nein, daß er nicht wüßte, ja, um es leichter zu haben, hat er seine Erinnerung ein wenig korrigiert, er weiß aber doch, daß seine Ehe nicht das war, was sie sich vorgestellt hatten, und daß die Zutaten für ein haltbares Glück nicht gereicht hatten und daß wenigstens Sissi alt genug war, die Misere mitzubekommen. Und er weiß auch, daß die Jahre vor Ingrids Tod die am

Weitere Kostenlose Bücher