Es geht uns gut: Roman
dem Tod seiner Großmutter von allein gekommen sind. Er arrangiert die Tulpen in einer großen Vase und stellt die Vase in eines der Küchenfenster, an dem er angesichts der milden Witterung beide Flügel öffnet. Er bohrt auch die dringend benötigten Löcher in die Sitzflächen der an der Gartenmauer postierten Stühle, damit die Sitzflächen, in deren Mulden Regenwasser stehenbleibt, nicht restlos durchfaulen. Er wagt neuerliche Blicke zu den Nachbarn, entdeckt aber wieder niemanden, keine Menschenseele. Einen der Stühle, durch den er am Vortag eingebrochen ist, zertrümmert er und wirft ihn in den Abfallcontainer. Geeigneter Ersatz findet sich im Nähzimmer. Philipp versieht auch diesen Stuhl mit einem Loch am tiefsten Punkt der Sitzfläche. Zufrieden, etwas getan zu haben, kehrt er zur Vortreppe zurück. Dabei flucht er über die ständige Abwesenheit der Nachbarn und sagt sich, wie schön es doch ist, etwas zu haben, über das man fluchen kann, ohne ein schlechtes Gewissen bekommen zu müssen.
Dies und einige weitere Ausführungen notiert er in sein aktuelles Heft und belästigt damit auch einen Freund, der ihn anruft, um sich zu erkundigen, ob er (Philipp Erlach) untergetaucht sei, ob der Grund, daß Philipp nichts mehr von sich hören lasse, der sei, daß er bis zu den Ellbogen in Arbeit stecke, ob er noch lebe oder ob man schön langsam anfangen solle, auf einen Kranz roter Rosen zu sparen.
– Nein, nein und ja, ja, erwidert Philipp.
Der Freund, ein schriftgelehrter Mensch, gibt zu bedenken, daß der Teufel ebenfalls Bibelzitate verwendet habe, als er Jesus in der Wüste versuchen wollte. Der Freund holt in verschiedene Richtungen aus. Philipp bringt zwischendurch ein paar höfliche Lacher an, was aber ein Fehler ist, weil das Gespräch damit nur unnötig verlängert wird. Am Ende will der Freund einen Besuch ankündigen. Aber Philipp sagt ganz offen, daß er sich von Besuchen und der Gefahr, eingeladen zu werden, möglichst fernhalte. Der Freund tut so, als enttäusche ihn die Auskunft. Dann will er wissen, woran Philipp im Moment gerade sitze.
Um die Beantwortung der Frage zu umgehen, erwähnt Philipp die Champagnerpralinen, die, wie er mutmaßt, schon mehrfach den Besitzer gewechselt haben, wahrscheinlich im selben Geschenkpapier. Das Ablaufdatum ist seit gut zwei Jahren überschritten, die Oberfläche der Schokolade hat ihren Glanz eingebüßt und ist von weißlichem Film überzogen. Philipp erzählt von der Kanonenkugel und dem ausdauernden Grafen. Doch das ist ebenfalls ein Fehler, schon sein zweiter. Oder dritter? Denn der Freund korrigiert ihn, Jan Potocki, der polnische Graf und Autor der Handschrift von Saragossa , habe nicht das Kaliber einer Kanonenkugel minimiert, sondern an einer Verzierung seines Samowars gefeilt.
– Um es genau zu sagen, an einer Eichelverzierung dieses Samowars.
– Ist nicht möglich, sagt Philipp.
– Kein Zweifel, insistiert der Freund: Während Potocki mit Freunden Tee getrunken hat. Von einer Kanonenkugel kann nicht die Rede sein.
– Ausgerechnet. Ein Samowar. Eine Eichelverzierung.
Doch was der Freund sagt, klingt überzeugend, er hat, wie er behauptet, das ganze Buch gelesen, beide Bände, das Vorwort, das Nachwort und weiß der Kuckuck was noch, während Philipps Quellen diffus sind (wie die der Donau). Alles mutmaßlich und nichts gewiß. Er kann sich nur darauf hinausreden, daß Potocki gegen die Ungenauigkeit bestimmt nichts einzuwenden hätte.
– Ernsthafte Arbeit, so oder so, sagt Philipp und bringt das Gespräch zu einem raschen Ende.
Im stillen und aus Gründen, die mit den Fakten nichts zu tun haben, steht Philipps Entschluß, auf der Version mit der Kanonenkugel zu beharren, in dem Moment ohnehin schon fest; als kleine Huldigung an die Gebrechlichkeit der Welt, die jeder sich zusammenbaut. Der Gedanke an das beharrliche Feilen ist anschließend zwar nicht mehr derselbe, weil Fakten das Hartnäckigste sind, was man sich vorstellen kann. So sagt man. Es bekümmert Philipp, daß auch diese Geschichte nicht wahr ist oder in Wahrheit nicht so, wie er es will. Aber er leistet Widerstand, er stemmt sich dagegen.
Und später, als er wieder auf der Vortreppe sitzt (gegen die Sonne blinzelt, auf einen Anruf von Johanna wartet, der er keinesfalls zuvorkommen will), hat er sogar einen lichten Moment. Da versöhnt er sich mit all diesen Kleinigkeiten, die so sehr ins Gewicht fallen. Da fühlt er sich einen Moment lang erhaben über den trostlosen
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