Es geht uns gut: Roman
Ehrgeiz der Faktentreue. Denn auf der Vortreppe gehört alles ihm. Dort ist er alleiniger Besitzer des Wetters, der Liebe, des polnischen Grafen, aller Tauben auf dem Dach und einer großen Einsamkeit. Er sagt sich: Wenn einer mit einem Ballon über dem Haus stünde und in meine Länderei schaute, was würde er dann von mir denken? Er würde hoffentlich einen sehr günstigen Eindruck von mir gewinnen, und ohne darauf bestehen zu wollen, ist doch anzunehmen, daß ich ( trotzdem bleibt das wichtigste Wort) ausreichend Anlaß gäbe, von ihm beneidet zu werden.
Und während er so brütet und während er sich wünscht, daß Johanna besagte Ballonfahrerin wäre auf der Suche nach dem Wetter von morgen, fällt die Asche seiner Zigarette, an der er, wie meistens, in sehr unregelmäßigen und langen Abständen zieht, von selbst. Er schiebt die Asche mit der Schuhspitze dort, wo eine Assel kauert, in eine Mulde, wo die verputzte Oberfläche der untersten Stufe abgeschilfert ist.
Im Rauch des letzten Zuges legt er dem jungen Stanislaus folgende Worte in den Mund:
– Fragen kann man sich vieles. Es ist auch schön, daß man manches denken kann. Aber das ist auch schon wieder alles.
Samstag, 6. August 1938
Er befindet sich im Dunkelsteiner Wald, tastet mit aufgestellten Lichtern die zurückweichenden und sich wieder aufbäumenden Straßenränder ab, an jeder Kreuzung auf dem brüchigen Fahrdamm rangierend, er wüßte gerne, wohin die Hinweisschilder gekommen sind und wer die wenigen vorhandenen Schilder verdreht hat und wofür das Bezahlen von Steuern gut sein soll, wenn nicht einmal auf die Beschilderung der Straßen Verlaß ist, und ob unter den neuen Herren vielleicht doch alles besser wird, breitere Straßen, hellerer Mond, bessere Orientierung. Auch die Grenzen der Phantasie haben sich unter dem Druck der Übermacht verschoben: Das große Reich der Ordnung und Gerechtigkeit hebt an. Na ja, denkt er, vorstellbar ist vieles, auch das Unwahrscheinliche, doch muß man von dem ausgehen, was wahrscheinlich ist, weshalb er an die nationalsozialistische Verheißung nicht recht glauben kann. Von glauben wollen ist noch nicht einmal die Rede. Klüger wäre es (zumindest träte der gewünschte Effekt verläßlicher ein), wenn er sich so schnell nicht wieder zu einer derartigen Zusammenkunft überreden ließe. Wobei: Ablehnen wäre auch schwer möglich gewesen aufgrund der Dienstreise und der zufälligen Anwesenheit in der Gegend. Die glücklose Suche nach einer halbwegs plausibel klingenden Ausrede hat ihn verlegen gemacht, so daß er sich kurzerhand zusagen hörte. Selbstverständlich werde er, allein aus Verbundenheit mit den werten (bedauernswerten) –.
(Stille.)
– Und wo genau soll das stattfinden?
Also ist er den Vertretern des niederösterreichischen Bauernbundes nach Ratzersdorf gefolgt, einem Flecken nördlich von Sankt Pölten, wo behördliche Störungen nicht zu befürchten sind, wie es hieß. Und alles wegen Geldangelegenheiten, um die Versorgung der Familien jener christlichsozialen Gesinnungsgenossen sicherzustellen, die seit dem Einmarsch in Dachau angehalten werden und von denen niemand vorherzusagen weiß, wann sie wieder freikommen. Richard versprach einen namhaften Betrag, und weil er dank dieser Zusage abkömmlich war, hielt ihn niemand zurück, als er sich verabschiedete, noch ehe er sein Bier getrunken hatte. Das war ihm dann auch wieder nicht recht. Wenigstens ein paar höfliche Einwände hätte er gerne gehört.
Jetzt irrt er seit gut einer halben Stunde durchs nächtliche Land, zwischen kleinsten, in Feldschneisen geduckten Ansiedlungen ohne jegliche Straßenbeleuchtung (was für ein Marktpotential, durchfährt es ihn). Wie Hasen springen die Häuser durchs Licht und zurück in die Deckung, wo man die Hand vor Augen nicht sieht. Von Bewohnern kein Zeichen, keine Menschenseele, alle im Bett. Das Kreuz schmerzt Richard, so spannt er den Oberkörper über den Lenker, den Hals langgestreckt, damit der Blick hinter den hastigen Scheinwerfern nicht zurückbleibt. Als an einer größeren Kreuzung wieder nur ein blecherner Pfeil mit Krems , aber nicht Sankt Pölten aus der Schwärze durchs Licht ruckt, nimmt er entnervt den Weg dorthin, weshalb er Wien erst kurz vor Mitternacht erreicht.
Lediglich Frieda ist noch auf, das Kindermädchen (das Hausmädchen, das Mädchen für alles). Sie sitzt in der Küche an dem mit Blech überzogenen Arbeitstisch und schreibt an einem Brief. Während sie ihre Schleifen
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