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Es geht uns gut: Roman

Es geht uns gut: Roman

Titel: Es geht uns gut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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Doppelleben führen, ermahnt er sich beim Mittagessen. Das wiederholt er einige Male zur Bekräftigung, skandiert es mit je einem Löffel Frittatensuppe: Ich darf kein Doppelleben führen . Aber am Ende weiß er nicht, ob ihn der Gedanke schreckt oder – noch schlimmer – ob es ihm schmeichelt, daß ihm dieses Doppelleben seit fünfeinhalb Monaten, seit Ende Februar, besser (wenn auch nicht leichter) von der Hand geht, als er es sich zugetraut hätte.
    Bisher tut Alma, als lebe sie ohne Verdacht. Richards spätes Heimkommen am Vortag hat sie gar nicht angesprochen, sich allerdings auch nicht nach dem Verlauf der Dienstreise erkundigt, was ihn doch kränkt. Es scheint niemanden allzuhart zu treffen, wenn er ein paar Tage außer Haus verbringt. Im Moment, wie Alma es nennt, ist er in der Tat nichts anderes als der Ernährer und Haushaltsvorstand. Und außerdem der Liebhaber des Kindermädchens. Kann gut sein, daß Alma mehr als nur eine Vermutung in diese Richtung hat, auch wenn sie nach außen hin vorgibt, die Zeichen zu mißdeuten. Neulich kreidete sie ihm an, neben der Arbeit zuwenig Gestaltungskraft für die Familie aufzubringen, ständig sei er abgekämpft und müde, ohne Ringe unter den Augen würde sie ihn gar nicht mehr erkennen. Sie erkundigte sich nach seinem Schlaf, ohne Hintergedanken, wie ihm schien, sehr fürsorglich. Bei seinen bekannt mäßigen Ansprüchen auf diesem Gebiet muß Richard trotzdem befürchten, daß ein Denkprozeß in Bewegung gekommen ist. An der Arbeit allein kann seine Übermüdung nicht liegen, da wird auch Alma sich ihren Reim machen. Wann gab es bei ihm je Gähnen am Nachmittag? Und Ringe unter den Augen? Schlafstörungen zählen nicht zu seinen Sorgen, die nächtliche Hitze scheuert nicht an seinen Nerven, die Verdauung funktioniert ohne jeden Anstand, was bei der gemischten Kost, die er aus Rücksicht auf die Kinder nimmt, schon etwas heißen will. Auf die Sorgen im Zusammenhang mit den politischen Umwälzungen kann er auch nicht ewig alle Schuld schieben, wo doch schon jetzt etliche Anhaltspunkte darauf schließen lassen, daß vorerst nicht einmal die Absicht besteht, ihn von seinem Posten zu entfernen.
    Am 13. März, dem Tag nach Beginn des Einmarsches, einem Sonntag, wurde Richard morgens von der Polizei aus dem Bett geholt und auf das Kommissariat in der Lainzer Straße verbracht. Man forderte ihm Gürtel und Schnürsenkel ab, beides bekam er nicht zurück, als er am späten Nachmittag in einem Taxi, das er selbst bezahlen mußte, in das Polizeigefängnis auf der Elisabethpromenade überstellt wurde. Er verbrachte mehrere Stunden in Gewahrsam, wenn man so nennen will, was er als Gefährdung empfunden hat, in einer katastrophal überfüllten Zelle, wo es ununterbrochen Streit gab. Kommunisten stritten mit Christlichsozialen und Christlichsoziale mit Sozialdemokraten und Sozialdemokraten mit Kommunisten um die Sache mit dem Gewissen, auf dem irgendwer das liebe Vaterland ja haben müsse. Am meisten beunruhigte Richard, daß die Männer sich größtenteils im Besitz sowohl ihrer Gürtel als auch ihrer Schnürsenkel befanden, wenn bei manchen auch Nase und Lippen und weniger sichtbare Körperteile Beschädigungen aufwiesen. Augenpartien erblühten als Veilchen, in Taxitüren eingeklemmte Finger färbten sich schwarz. Wo nicht gestritten wurde, war die Stimmung gedrückt, und Richard einer der Gedrücktesten, weil er keine Bürgerkriegserfahrung hatte und im Gegensatz zu den meisten der Anwesenden mit derlei Situationen völlig unvertraut war. Mit zunehmendem Schrecken richtete er sich auf seine erste Nacht im Arrest ein, die dann aber doch nicht stattfand, weil die Aktion wenigstens in seinem Fall vor allem der Einschüchterung diente. Nach einer kurzen nächtlichen Befragung durch reichsdeutsche Beamte, denen Illegale zur Seite standen, unterschrieb er ein im Stapel aufliegendes, mehrseitiges Gelöbnis, dessen Inhalt ihm dahingehend verdeutscht wurde, daß man von ihm erwarte, sich politisch nicht mehr zu betätigen. Als ob er sich je ernsthaft politisch betätigt hätte. Daraufhin wurde er nach Hause entlassen. Er weiß noch, daß er sich von den Beamten in aller Form verabschiedete und die Tür hinter sich schloß, als läge drinnen jemand im Sterben. Auf dem Flur nahm er Haltung an und stieg, so würdevoll es seine offenen Schuhe zuließen, die breite Steintreppe hinunter. Was ihm dabei durch den Kopf ging, hat sich bereits wieder verflüchtigt, aber ein Gefühl von nie

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