Es geht uns gut: Roman
die Verriegelung gelöst, tritt er ein, im rotsamtenen Schlafrock, mit gedunsenem Gesicht und schweren Augenlidern, die ergrauenden Haare stehen ihm an der Schlafseite waagrecht vom Kopf, das verleiht seinem Aussehen etwas Unbeholfenes und Harmloses; aber da läßt Ingrid sich nicht täuschen. Höflich, wie es sich für eine brave Tochter gehört, wünscht sie einen guten Morgen.
– Guten Morgen, sagt auch Richard. Doch allein die Art, wie er den Gruß zurückgibt, genügt als weitere Kostprobe der schlechten Laune, die er seit Tagen mit sich herumträgt. Von den stockenden Verhandlungen um den Staatsvertrag, die sich ausgerechnet an Artikel 35 und den Schürfrechten auf den Erdölfeldern entlang der March spießen, ist er hochgradig nervös. Zusätzlich macht ihm ein eitriger Zahn zu schaffen.
Er dreht den Wasserhahn auf und wäscht sich die Hände. Nach einer Weile sucht er mit strenger Brauenfalte Ingrids Blick. Er sagt:
– Willst du dich für gestern entschuldigen? Es wäre ein gutes Zeichen und spräche für dich, wenn du Fehler einsehen und dich entschuldigen könntest.
Noch vor wenigen Wochen hätte sich Ingrid zur Gegenfrage hinreißen lassen, wofür (bitte?) sie sich entschuldigen soll. Oder sie hätte den Gegenvorschlag gemacht, er selbst solle sich entschuldigen, nämlich dafür, daß das Glück seiner Tochter auf sein stures Gemüt keinen Eindruck macht. In der Nacht hat sie sich dutzendweise Sätze zurechtgelegt, die mit Liebe zu tun hatten und von denen sie glaubte, daß sie ihren Vater zur Einsicht bringen müßten. Nun verharrt sie in fast schon zur Routine gewordenem Schweigen, steckt sich die Zahnbürste tief in den Mund und beginnt mit dem Bürsten, damit ihr Vater nicht länger auf eine Antwort wartet und sich erst recht keine Hoffnungen über die Aussichten macht, die einem zweiten Anlauf beschieden wären. Sie ist freundlich. Sie hat nett guten Morgen gesagt. Damit vergibt sie sich nichts. Alles andere wäre in ihren Augen übertrieben und würde nur den Anschein erwecken, auch diesmal ginge wieder alles so, wie ihr Vater es bestimmen will. Er nimmt für sich in Anspruch, in allem recht zu haben. Papa omnipotens. Was aus seinem Mund kommt, ist Diktat. Aber auf solche Gespräche legt Ingrid keinen Wert mehr. Aus dem Alter ist sie heraus. Die ewig gleiche Sackgasse. Da hat sie Besseres zu tun.
– Nicht Muh und nicht Mäh, sagt Richard.
Er wäscht sich prustend und stöhnend das Gesicht, dieses Gesicht, in dem Ingrid nichts von sich entdecken kann. Er spült den Mund mit Odol, weil ihm der eitrige Zahn das Zähneputzen verleidet hat. Er gurgelt ausgiebig. Anschließend hält er seinen Kamm unters Wasser und bringt die Haare in Ordnung. Zwischendurch ein Mustern und Abschätzen, das Ingrid gilt, via Spiegel. Ingrid mustert sich ebenfalls im Spiegel. Sie stellt fest, daß die letzten Wochen und Monate ihre Spuren hinterlassen haben, das viele Lernen und das viele Lügen sind ziemlich anstrengend. Sie hat schon besser ausgesehen. Geduckt, unter dem hochgehobenen Arm ihres Vaters, spült sie die Zahnpasta mit zwei Mundvoll Wasser aus. Als sie unmittelbar darauf Anstalten macht, das Badezimmer zu verlassen, sagt ihr Vater:
– Ich muß mich sehr über dich wundern. Einer Fünfzehnjährigen würde dein Verhalten besser anstehen als einer Neunzehnjährigen. Daß du dich nicht schämst.
Ingrid nimmt auch dies kommentarlos zur Kenntnis. Sie verkündet Unwohlsein, das fühlt sich wie vorgeschützt an, obwohl ihr wirklich und wahrhaftig (sind das die Nerven?) im Magen flau ist.
– Mir ist nicht gut, sagt sie.
Daraufhin zieht sie sich zurück in ihr Zimmer. Während sie sich dort ankleidet, setzt sie sich mit der Tatsache auseinander, daß sie von niemandem außer Peter für voll genommen wird. Allein beim Gedanken an den vergangenen Fasching steigt eine solche Bitterkeit in ihr auf, daß sie sich am liebsten wieder ins Bett legen würde. Nicht, daß sie ihrem Vater einen Vorwurf macht, weil er von Peter wenig begeistert ist oder weil die Woche am Arlberg an seinem Njet gescheitert ist. Das ist Geschmackssache. Aber daß er sie in ihrer Liebe, die bestimmt nicht nur Oberfläche ist, in keiner Weise ernst nimmt und ihre Gefühle als Getue bezeichnet, dagegen lehnt sie sich auf. Ihr Vater behandelt sie wie ein Kind, dem man sein Spielzeug wegnehmen will, und jetzt, wo die Nachricht von der Verlobung durchgesickert ist, legt er eine Schaufel drauf, weil ihm diese Dummheit als ausreichender
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