Es geht uns gut: Roman
hätte man ihn soeben aufgefordert, etwas zu tun, was er nicht tun will, zum Beispiel, die Gartenschere herausrücken, damit er kein Blutbad anrichtet. Aus dem Gesichtsausdruck des Buben ist unschwer zu erkennen, daß gleich etwas geschehen wird. Gleich wird er anfangen zu weinen.
Die Stimmen, die Philipp hinter der Mauer hört, sind Kinderstimmen, und er stellt sich vor, daß sie alten und vernachlässigten Freunden gehören, die immer noch Kinder sind und auf ihn warten, seit achtundzwanzigeinhalb Jahren, beharrlich, geduldig und zuversichtlich. Vielleicht hat man ihnen als Volksschüler aufgetragen, in das Schönschreibheft zu schreiben, daß das Glück zu denen kommt, die warten können. Zehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig Mal immer dasselbe schreiben bis zur völligen Abstumpfung, in eine Unverbindlichkeit hinein, in der alles nichts mehr bedeutet. Während die Stimmen in Philipps Rücken immer konturloser werden, weil er sich Mühe gibt, möglichst wenig von dem, was gesprochen wird, zu verstehen, denkt er, daß alles immer ist, als versuche man denselben Satz diesmal noch schöner in sein Heft zu schreiben. Vielleicht ist es das, was uns zu armen Teufeln macht.
Als Philipp zum Haus zurückkehrt, sind die Flügel des Dachbodenfensters aus den Angeln gehoben, die Öffnung ist mit Schachtelkarton ausgeschlagen. Immer wieder fliegen Tauben gegen diesen Karton, immer wieder mit den Krallen voran, das Papier aufreißend, immer wieder ganz jämmerlich fiepend. Andere Tauben kratzen an den Ziegeln des Firsts, an der Regenrinne, überall wo sie sich niedergelassen haben. Steinwald und Atamanov sitzen auf der Vortreppe, auf Philipps angestammtem Platz. Sie trinken lustlos Bier, das sie, wie Philipp annimmt, aus dem Kühlschrank genommen haben. Sie sehen auf sehr beeindruckende Weise elend aus oder wenigstens, als wäre nicht mehr die Kraft in ihnen, auf die geleistete Arbeit auch noch stolz zu sein. Ganz offensichtlich ist ihnen nicht nach Reden zumute; sie erwidern nicht einmal Philipps Gruß. Maske und Brille haben sie abgelegt, sie tragen aber deren präzise gezogene Konturen in den Gesichtern. Über die ungeschützte Haut hat sich derselbe weiße Staub wie auf die Haare gelegt, die von staubgestocktem Fett in die Höhe stehen. Philipp hingegen, obwohl er schwitzt und obwohl seine Sichtscheibe an den Rändern beschlagen ist, hat Maske und Brille nach wie vor auf, als wäre die Schlacht gegen die Mächte der Finsternis noch nicht geschlagen und er gewillt, weiterhin mit geschlossenem Visier zu kämpfen. Durch das beschlagene Plexiglas hindurch sieht er die traurigen, auf seine gelben Gummistiefel gerichteten Blicke. Seine Gummistiefel tragen ein wenig Erde an den Sohlen, während die Stiefel von Steinwald und Atamanov mit Taubendreck vollgesaut und mit Daunen verklebt sind.
– Wie ihr euch ins Zeug legt, alle Achtung. Ihr seid wahre Helden der Arbeit, sagt Philipp verlegen.
Kein Kommentar. Man kann es den beiden nicht zum Vorwurf machen.
– Verwendet doch bitte das Badezimmer im oberen Stockwerk. Dort gibt es sogar einen Erste-Hilfe-Kasten, wenn auch fraglichen Inhalts.
Blut sickert aus mehreren Kratzern an Atamanovs Hals. Steinwald nickt, spuckt gekonnt einen Batzen krachend hochgeräusperten Schleims in den Container, doch ohne Anstalten, sich zu erheben. Bei aller Geduld, mit der er die Plackerei auf dem Dachboden verrichtet: diesen Gefallen erweist er dem frischgebackenen Hausbesitzer nicht.
– Jedenfalls danke, sagt Philipp.
Ihm ist die Situation peinlich. Er preßt die Lippen aufeinander. In einem Anflug gelinder Verzweiflung greift er nach den Fensterflügeln, die neben der Haustür lehnen. Er entfernt sorgfältig die von blasigen Einschlüssen gespickten Glasreste und schleppt die Rahmen zu seinem Fahrrad, in der Absicht, wie er verkündet, sie zum Glaser zu bringen.
Auf dem Weg dorthin denkt er sich weitere Fotografien aus, alle sehr grobkörnig und die Farben ein wenig verblaßt. Er ermahnt sich, auf keinen Fall zu vergessen, Johanna wegen des Fotoapparats anzurufen, aus diesem und nur aus diesem Grund. Das muß er unbedingt anbringen, damit sie nicht glaubt, er wolle ihr auf die Nerven fallen.
Dienstag, 12. Mai 1955
Im Flur sind Schritte zu hören. Sie läßt das Nachthemd fallen, dessen vorderen Saum sie zwischen den Zähnen hatte, und sperrt die Tür auf, damit ihr Vater sich nicht beklagen kann, sie würde sich in letzter Zeit ständig verbarrikadieren. Er soll ihr was. Kaum ist
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