Es geht uns gut: Roman
schreien.
Philipp verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. Dann geht er Stufe für Stufe die Stiege runter und schlägt mit den Händen nach dem Staub, der ihm, so befürchtet er, in Hemd und Hose gekrochen ist. Philipp geht raus, über den Kies des Vorplatzes, in den Garten, an die frische Luft. Nachdem eine herumstreunende Katze bei seinem Anblick in Jahrmarktsgeschrei ausgebrochen und ins Unterholz bei der Mauer geflüchtet ist, setzt er sich auf das ehemalige Postament des Schutzengels und zwar so, daß sich ihm ein ungehinderter Blick auf das Dachbodenfenster bietet.
Mittlerweile hat Atamanov mit seiner Schaufel auch das Glas des zweiten Fensterflügels zertrümmert. In loser Reihenfolge stürzen sich Vögel, denen Atamanov mit der Schaufel die Richtung weist, ins Freie. Atamanov verwehrt nach derselben Methode rückkehrwilligen Tauben die Landung auf dem Fensterbrett. So geht es dahin, gut eine halbe Stunde lang, bis etwa vierzig Tauben den Dachboden verlassen haben. Dann folgen die, die noch nicht flügge waren. Sie fallen tot von Atamanovs Schaufel und landen zwischen einem an der Hauswand lehnenden Stapel aus furchigem Brennholz und dem von Rost überwucherten Zaun des Gemüsegartens. Dead and gone. Die Katze stürzt aus dem Gestrüpp heraus und schafft sich mit einem zerfledderten Kadaver im Maul wieder davon. Philipp, der den Standpunkt vertritt, diesem Teil der Arbeit nicht beiwohnen zu müssen, seufzt leise und bahnt sich ebenfalls einen Weg durch den Garten, aber Richtung Mauer.
Es kann doch sein, sinniert er, daß ihm die Zeit mit Johanna irgendwann als unerheblicher Teil seines Lebens erscheint oder daß er sich endgültig damit abfindet, daß die Wolken vorüberziehen, ohne etwas zu versprechen oder zu halten, eine Schicht um die andere, den Himmel immer wieder entblößend, um begreiflich zu machen, wie es wirklich ist, Johannas Stimme wirklich ist, ihre Bewegungen wirklich sind, und daß er keine Wahlmöglichkeit hat, wenn er sich einbildet, Johanna zu lieben. Johanna hingegen nutzt die Tatsache, sich im gleichen Moment und seit knapp zehn Jahren abwechselnd nicht viel oder nicht genug aus ihm zu machen, um sich alle Optionen offenzuhalten. Die Wetterseite ihrer gemeinsamen Beziehung, ihres Beziehungsdramas, sozusagen. Und (denkt Philipp): Ich habe meinen Stolz, der mir etwas bewahrt, das mit Unschuld zu tun hat.
Das ist ein Gedanke, den er eigentlich noch weiterdenken will und sollte. Doch hat er mittlerweile den ersten Stuhl erstiegen und sich dank der schweren Handschuhe, die er trägt, an den Ziegeln des Mauerfirsts so weit hochgezogen, daß er in einen Teil des Gartens sieht, der bisher immer im toten Winkel gelegen ist und in dem ein Mann auf Knien und mit einer Drahtbürste Moos entfernt, das sich in den Fugen einer Reihe von Waschbetonplatten eingewuchert hat.
– Hallo! ruft Philipp.
Sogleich bringt ihm der Klang seiner Stimme in Erinnerung, daß er Gasmaske und Schutzbrille im Gesicht trägt. Der Mann schaut hoch unter erhobenen, buschig weißen Augenbrauen, stutzt auch, aber nur sehr kurz, verblüffend kurz. Philipp ist der Ansicht, er hätte etwas mehr Verwunderung verdient. Dann brüllt der Mann, indem er seine Faust in Philipps Richtung schwingt, er solle sich zum Teufel scheren, und zwar hurtig. Philipp schaut auf den Tobsüchtigen, gleichzeitig spürt er, daß sein Hemd hochgerutscht und unter dem Hemd der Bauchnabel hervorgekommen ist und daß von der Mauer Kälte abstrahlt. Er ist hin- und hergerissen zwischen den drohenden Gebärden des Mannes und dem angenehmen Gefühl an seinem entblößten Bauch. Eigentlich würde er gerne noch einen Moment so bleiben, die Beine in der Luft, die Armmuskeln gespannt. Doch der Mann ist bereits aufgesprungen und macht Anstalten, die Drahtbürste nach Philipp zu werfen, so daß Philipp lieber in Deckung geht. Verdutzt trottet er zum nächsten Stuhl. Nachdem er dort ein im Schlafzimmer der Großmutter eingestecktes Foto aus der Hosentasche geholt hat, setzt er sich nieder, denn von hinter der Mauer hört er Stimmen.
Das Foto zeigt einen Buben in einer gestrickten roten und zu großen Badehose. Das ist Philipp, vierjährig und blond. Er steht im kniehohen Gras. Der ganze Hintergrund ist Gras und geht in einen weißen, unregelmäßig gezahnten Rand über. Der Bub auf dem Foto umklammert mit beiden Händen eine große Gartenschere mit gelben Griffen. Sein Blick ist aufwärts zum Objektiv gerichtet, mit einem mißtrauischen Gesichtsausdruck, als
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