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Es geht uns gut: Roman

Es geht uns gut: Roman

Titel: Es geht uns gut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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Betrachtung sehen die beiden sehr beherzt aus, aber auf den zweiten Blick erwecken sie nicht den Eindruck, als ob sie die Entschlossenheit von zehn Teufeln besäßen. Philipp bietet Zigaretten an. Doch ohne diesem Offert Beachtung zu schenken, oder vielmehr, ohne sich neuerlich anstiften zu lassen, den Gang in den Dachboden aufzuschieben, schultern die Arbeiter ihre Schaufeln und poltern die Treppe hinauf.
    Philipp bleibt in der Diele. Er begutachtet die restlichen Einkäufe. Vor allem seine Gummistiefel gefallen ihm, mit einem roten oberen Rand, innen grün gefüttert, die Sohlen ebenfalls grün, passend zu seinem Lieblingshemd. Er zwängt seine Füße in die Stiefel, sie sitzen so lala. Eine Nummer größer hätte es auch getan. Gasmaske und Schutzbrille bringt er an den dafür vorgesehenen Stellen an, auch in die schweren Arbeitshandschuhe schlüpft er noch im Erdgeschoß. Derart ausstaffiert und La Paloma trällernd, nimmt er die Treppe in Angriff. Doch bereits im ersten Stock biegt er ab, weil sich der größte Spiegel des Hauses im früheren Schlafzimmer der Großmutter befindet. Um mehr Licht hereinzulassen, öffnet Philipp die Fensterläden. Er betrachtet sich eine Weile im Spiegel. Dann geht er dazu über, sich vor die Reihen der Fotos zu stellen, die in dem Zimmer an den Wänden hängen: teilweise über dem Bett, teilweise über dem Toilettentisch, alle vor demselben Hintergrund des grünen, auf die Wände gewalzten Kartoffeldruckmusters. In ovalen, runden, viereckigen und hufeisenförmigen Rahmen, von Porzellanefeu und Metallrosen umschlossen, all die vertrauten und weniger vertrauten Gesichter, die ganze zerstreute, versprengte und verstorbene Familie. Philipp erkennt sie alle, in allen Altern.
    Er fragt sich, ob seine Angehörigen auch ihn erkennen würden, Philipp Erlach, sechsunddreißig Jahre alt, ledig.
    Mit Maske und Schutzbrille sieht er nicht wie ein Enkel, Sohn oder Bruder aus. Eher wie eine Erscheinung, wie einer, der sich keimgeschützt und unbetroffen nach Jahrzehnten in eine längst verlassene Landschaft wagt und Materialproben nimmt. Zur Dokumentation einer untergegangenen Kultur.
    Ist ja alles schon ewig her, redet er sich zu, und für einen Augenblick glaubt er, in seiner Verkleidung niemandem Rechenschaft schuldig zu sein. Er findet sogar den Mut, die Nachtkommode der Großmutter zu öffnen, die vollgestopft ist mit Papierkram. Er zieht die Schubfächer mit einer gewissen Gleichgültigkeit heraus, in einem fast neutralen Raum, eher flüchtig und doch im Bewußtsein, daß er hier einer Möglichkeit gegenübersteht, vom Fleck zu kommen (wie Johanna es ausdrücken würde). Er hingegen würde es nicht so ausdrücken. Aber den Weg in den Dachboden setzt er trotzdem mit einem Gefühl der Unruhe fort.
    Sowie er die Tür des Dachbodens geöffnet hat, verdoppelt sich sein Puls. Steinwald schreit ihm durch das Knattern der Flügel und das akustisch zu einem einzigen, anhaltenden Ton verfestigte Fiepen entgegen, er solle verschwinden. In Steinwalds von der Maske verzerrter Stimme klingt das schiere Entsetzen. Philipp sieht, daß Atamanov beim Fenster steht, Steinwald in der Mitte des Raums, beide umflattert von Tauben, die weißen Staub aus ihren Flügeln schlagen. Beide in den spiralenen Strudeln dieses Staubs versinkend und wieder daraus hervortauchend. Dreckig, als ob sie sich beide schon mindestens einmal der Länge nach auf die frischen Kotschichten geworfen hätten. Der ganze Raum ist von einem kreidigen Weiß überzogen. Nicht vom Weiß verwunschener Schneelandschaften, sondern dem gruseligen Puder von Zombies. Die ständig vor Steinwald und Atamanov kreuzenden Vögel erzeugen die Wirkung harter Filmschnitte. Die beiden sehen aus wie hilflose Automaten, glubschäugig und stumm. Lichtreflexe zucken auf dem Blatt von Atamanovs Schaufel. Philipp denkt noch, daß die zwei Männer trotz des Grauens, in dem sie sich bewegen, weniger verblüfft scheinen, hier zu sein, als er, der ihnen zusieht. Dann hat Steinwald, schaufelschwingend, die Tür erreicht, versetzt ihr einen Tritt, daß Philipp Mühe hat, den Kopf rechtzeitig zurückzuziehen. Die Tür kracht vor seiner Nase ins Schloß.
    Er bläst erleichtert Luft aus, atmet tief ein, und während er für mehrere Sekunden auf die Geräusche lauscht, die dumpf und traurig durch die Tür dringen, hält er sich dazu an, sich bei nächster Gelegenheit beeindruckt zu zeigen.
    – Na also, du Sauvieh, warum nicht gleich! hört er Steinwald aus voller Kehle

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