Es geht uns gut: Roman
Machtausübung verzichten, so wäre das eine echte Liebesbezeugung, die Ingrid von ihrem harten Kurs abbringen könnte. Klar, wie es sich aus ihrer Sicht darstellt, ist das höchst unwahrscheinlich, ein paar Kompromisse wird ihr Vater vielleicht eingehen, aber nur die allermindesten, das ist die Art, wie er denkt, und es ist auch die Art, wie sie selbst denkt. Das Leben wird aus Kompromissen bestehen, mit den Eltern, mit den Sowjets, mit Peter, mit den Kindern, die sie irgendwann mit Peter haben wird.
Sie greift sich an den Bauch, eine fast schon reflexartige Bewegung. Das sind jetzt mehr als fünf Wochen. Dann streicht sie Honig auf ihre Semmel, und während ihr Vater weiterredet, über Flegel und Rotzlöffel (gemeint ist Peter) und über Strafe muß sein (das gilt ihr), stellt sie sich die Gewissensfrage, ob sie ihren Vater liebt. Und wenn ja, wie sehr? Gute Frage. Aber wie soll sie jemanden lieben, der sich ihrem Glück in den Weg stellt? Jemanden, der kein Argument gelten läßt, das mit Empfindungen zu tun hat? Weil Empfindungen unzuverlässig sind. Weil die Liebe eine Landplage ist. Einen Analphabeten des Gefühls? (Das hat sie in einem Roman gelesen.) Nichts als Vernunftgründe. Grauenhaft. Grauenhaft. Also Antwort: Nein. Respektieren: Ja. Aber lieben: Nein. Und weiter: Ob dann wenigstens ihre Mutter ihn liebt? Nicht weniger gute Frage. Antwort: Vielleicht. (Es ist also nicht unbedingt auszuschließen.)
Ingrid mustert ihre Eltern (verstohlen?): Einerseits die Verkörperung des vorbildlichen Patrioten, dem böse Mächte das Leben schwermachen und der fürchten muß, daß durch Risse und aufgeplatzte Nähte unreiner Geist in die österreichische Seele eindringt. Andererseits die im Mahlwerk der Ehe schon etwas rundgeschliffene Hausfrau, Flötenspielerin und Bienenzüchterin, die sich aus allen Konflikten heraushält, Moment, nein, die nur so tut, als würde sie sich heraushalten, die gleichzeitig im Hintergrund zu glätten versucht, was zu glätten geht, und von der man fairerweise sagen muß, daß sie beiläufig bei ihrem Mann mehr ausrichtet als Ingrid mit offenem Revoltieren. Manchmal hat Ingrid den Eindruck, daß (wenn es auch gewiß nicht die ideale Liebe ist) hinter dem, was ihre Eltern verbindet, nach wie vor mehr steckt als nur Gewohnheit.
Ingrid würde ihre Mutter gerne darauf ansprechen, was sie für ihren Mann empfindet. Aber so naheliegend die Frage ist, so abwegig ist sie auch, weil Ingrid diese Frage als jemand stellen müßte, der außerhalb steht. Doch als Kind (und diese Vertracktheit erfaßt Ingrid intuitiv) ist sie die greifbare Folge der Liebe ihrer Eltern, selbst wenn diese de facto keinen Bestand mehr hat. Ingrid verkörpert – so oder so – die Zukunft dessen, was sich ihre Eltern einmal bedeutet haben. In diesem Punkt ist sie sogar bereit, das Erbe anzutreten. Aber ihre Eltern hätten auch Otto durch den Krieg bringen sollen, findet sie. Es wird ihr langsam zuviel, alle Erwartungen von Jugend und Aufschwung und besseren Zeiten in ihrer Person konzentriert zu sehen. Sie ist nicht die Zukunft ihrer Eltern. Sie ist ihre eigene Zukunft. Am liebsten würde sie sagen: Papa, gib die Hoffnung auf, daß sich die Ordnung deiner Eltern nochmals wiederholt. Die Welt verändert sich, sie verändert sich an Stellen, von denen man es nicht erwartet: In der Gestalt von Töchtern zum Beispiel.
Richard läßt sich gerade über die Ungeklärtheit von Peters wirtschaftlichen Verhältnissen aus, und daß es viele junge Männer gebe, die durch die Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse in ihrer Berufsentwicklung zurückgeworfen wurden. Für um so unverantwortlicher halte er es, einem Mädchen, das sechs Jahre jünger ist, mit Heiratsgedanken das Herz schwer zu machen, wenn man sein Studium seit Jahren nicht weiterbringe und auch sonst nichts vorzuweisen habe außer Schulden.
Ingrid würde gerne dahinterkommen, woher ihrem Vater diese Informationen zufliegen, und weil ihr Vater nicht aufhört, auf Peters geschäftlicher Malaise herumzuhacken, stellt sie sich schützend vor ihren Liebsten (der und kein anderer, sie wird ihn immer):
– Papa, ich weiß wie niemand, daß Peter rackert und sich plagt, um vorwärtszukommen. Es ist ehrliche Arbeit.
– Aber daß ehrliche Arbeit erst dort anfängt, wo sie auch etwas einbringt und nicht nur das Geld anderer kostet, hat sich nicht bis zu euch durchgesprochen, was? Da geht auch dir deine rasche Auffassungsgabe plötzlich ab. Solange diese Spiele nichts
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