Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
flüsterte Gerd ihr zu: »Treffen wir uns morgen um halb neun bei den Buchen?«
»Warum da draußen bei den Buchen? Scheust du die Menschen?«
»Ich muss mit dir reden. Allein. Kommst du?«
»Mal sehen«, flüsterte sie und wischte davon.
Er blickte ihr nach. Sie ist wie eine Feder, leicht und zart, dachte er. Jedes Mal, wenn ich denke, ich kann sie mit meinen Händen fassen, dann weht sie davon.
Mutter rief aus der Küche: »War sie schon wieder bei Vater? Sie hat doch sicher um diese Zeit andere Arbeit, oder?«
»Was hast du nur gegen Ruth, Mutter?«, antwortete Gerd aufgebracht.
Er trat in die Küche. »Alles, was sie tut, ist dir nicht recht. Kommt sie nicht, dann ist es nicht gut, kommt sie, dann schimpfst du auch.«
Ärgerlich wandte Frau Märzenich sich ihm zu. Ihr Gesicht war von der Hitze des Herdfeuers gerötet.
»Ach, immer Ruth, Ruth! Ich kann den Namen schon nicht mehr hören. Du bist zu jung für ein Mädchen. Und dann eine Jüdin!«
Sie spie in die Kohlen und griff nach der Pfanne. Gerd warf die Tür ins Schloss und stapfte in die Schmiede zurück.
»Vom Stamm Levi«, knurrte er, schlug dann mit der flachen Hand gegen den Kessel, dass es wie ein Gong durch das Haus schallte. Er dachte: Warum muss alles so verwickelt sein, was ich auch anfasse? Hammer und Amboss, das glühende Eisen dazwischen, das ist einfach und klar. Aber hinter der Schmiedetür, da fängt das Elend an.
Bald dröhnten die Hammerschläge dumpf und hart. Er hatte sich den Vorhammer vom Werkzeugbrett genommen und drosch auf ein Eisenband los, als ob es allein seine Welt durcheinandergebracht hätte.
8
Fern hinter der Großen Kirche wuchs das erste, kalte Morgenlicht, als Sigi mit Vater aus dem Hause trat.
»Guten Handel«, wünschte die Mutter und winkte ihnen nach. Die Tritte der beiden hallten durch die Straße. Eine getigerte Katze huschte in Märzenichs Keller. Waldhoff hatte seinen Knotenstock mitgenommen. Bis zum Blümerhof war es eine gute Wegstunde, und gegen sieben wollte Waldhoff die Kuh bei Kardow abliefern.
Sie bogen um die Ecke. Die Fürstenstraße verengte sich zu dem schmalen Stadttor. Die Spitzen der Tortürme glühten im Frühlicht. Als sie an Sellers Haus vorbeikamen, fasste Sigi Vaters Hand.
Zwei Häuser weiter öffnete sich die Haustür, und Mehlbaum trat heraus. Er stand jeden Morgen zeitig auf.
»Guten Morgen«, grüßte Waldhoff und zog den Hut.
»Morgen«, knurrte Mehlbaum mürrisch und wollte eilig vorbeigehen.
»Du, Georg, ich habe gehört, dass du etwas ausgesagt hast.«
Mehlbaum blieb stehen, sah Waldhoff frei ins Gesicht und antwortete: »Ich habe das gesagt, was ich gesehen habe. Und ich werde es dem Kriminalen auch sagen.«
»Georg, du weißt, dass deine Behauptung uns belastet.«
»Irgendwo hört die Nachbarschaft auf, Waldhoff.«
»Aber Ruth kann es gar nicht gewesen sein, denn unsere Werkstatttür ist seit Tagen vernagelt.«
»Was mit deiner Werkstatttür ist, das weiß ich nicht, aber was ich gesehen habe, das weiß ich. Ich habe doch noch Augen im Kopf. Nur eure Ruth kann es gewesen sein. Wer soll denn sonst über euren Hof laufen?«
»Georg, was tust du uns da an?«
Mehlbaum spuckte in den Rinnstein und ging ein paar Schritte weiter. Dann blieb er wieder stehen und rief halb laut zurück: »Wenn du es ganz genau wissen willst: Der Kräfting, der in der Lehmgrube arbeitet, hat beobachtet, wie Peter und Paul ein Kind bei euch ins Haus gezogen worden ist. Das passt doch alles richtig zusammen, wie?«
»Unsinn, alles Unsinn. Er muss sich irren!«, stieß Waldhoff hervor. Doch Mehlbaum ging weiter, ohne sich noch einmal umzusehen. Schnell schritt Waldhoff aus. Sigi kam fast ins Laufen, so lange Schritte machte der Vater.
Gleich hinter dem Tor blieben die Häuser zurück. Die Hufschmiede schmiegte sich an die Stadtmauer. Dann führte die Straße bereits durch das flache Land. Das Korn war hoch aufgeschossen in diesem Jahr. In die Gerstenschläge würde bald die Sense fallen. Doch Sigi sah nicht das Gold der reifenden Felder, hörte nicht die Lerche, die wie ein Pfeil in den Himmel schoss und die Sonne grüßte.
»Was soll das alles, Vater?«, fragte er.
»Kind, sie suchen nicht den wirklichen Täter. Sie meinen, sie kennen ihn bereits. Was sie suchen, das ist nur der Beweis dafür, dass sie recht haben. Wenn aber eine ganze Stadt über eine Woche lang fieberhaft herumredet, Vermutungen äußert, tausend ›Vielleicht‹ und ›Wahrscheinlich‹ spinnt, dann findet sich dieser
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