Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
nicht, Waldhoff. Aber nimm es nicht so schwer. Der Kriminalkommissar aus Düsseldorf wird es schon machen. Wenn deine Sache sich geregelt hat, dann steht dir der Hof wieder offen.«
»Komm!« Vaters Stimme klang wütend. Sigi trieb das Rind vor sich her. Eilig liefen sie auf die Stadt zu, die in der Morgensonne glänzte.
Als sie über den Wall gingen, nahm Sigi das Tier fest am Strick. Jedes Mal wurden die Rinder bockig, wenn sie sich Kardows Schlachthaus näherten. Ob sie das Blut witterten? Kardow trat aus dem Haus. Er hatte die Schürze vorgebunden.
Das Schlachtmesser zog er über einen Wetzstein und gab ihm den letzten Schliff.
»Guten Morgen, Peter«, grüßte Waldhoff. Er streckte dem Metzger die Hand entgegen. Doch der war so mit dem Messer beschäftigt, dass er das wohl nicht sah.
»Morgen.«
»Ich wollte dir die Kuh bringen. Sieh mal, ein prächtiges Tier.«
Kardow schaute kurz auf und brummte: »Na, so gut ist sie wohl nicht.«
Waldhoff, der gerade noch einmal rund um das Tier ging, blieb erstaunt stehen.
»Nicht gut? Peter, wo hast du deine Augen? Sie ist vom Blümerhof.«
»Na, gut. Was soll sie kosten?« Waldhoff nannte den Preis.
Kardow lachte. »Auf keinen Fall, Waldhoff. Auf gar keinen Fall bezahle ich eine solche Summe für das Rind. Ich zahle dir nicht einmal die Hälfte.«
Waldhoff war verwirrt. Er hatte einen ordentlichen Preis genannt. Sicher, um zwei, drei Taler wollte er handeln.
Aber dazuzahlen?
»Du irrst dich, Peter. Es ist wirklich ein schönes Tier. Die Hälfte, das kann ich nicht.«
»Gut, dann suche dir in Zukunft einen anderen Metzger. Ich werde mich doch nicht von einem Waldhoff übers Ohr hauen lassen.«
Kardow prüfte sein Messer und strich es über den Daumenballen. Dann drehte er sich um und lief ins Schlachthaus zurück, ein wenig schnell, schien es Sigi.
Einen Augenblick stand Waldhoff starr. Dann tappte er ein paar Schritte vorwärts, trat in die Tür des Schlachthauses und rief: »Peter, du wirst es dir noch einmal überlegen, nicht?«
Sigi wollte die Kuh nehmen und fortgehen. Er schämte sich. Wie Kardow Vater behandelte! Warum lief Vater ihm nach? »Peter, bitte, ich lasse dir fünf Taler nach. Bitte, nimm mir das Rind ab.«
Sigi rechnete. Er wusste, dass Vater bei diesem Preis keinen Pfennig an der Kuh verdienen konnte.
»Ach, geh fort. Ich hab meine Arbeit. Lass mich in Ruhe«, tönte Kardows Stimme aus dem Haus.
Warum geht Vater nicht endlich?, dachte Sigi.
Doch Waldhoff rang die Hände: »Peter, warum willst du die Kuh nicht? Kennen wir uns nicht von Kindesbeinen an? Habe ich dich jemals betrügen wollen?«
»Ach, Bernd, versteh doch …«, sagte Kardow gequält.
»Wenn er es nicht kapiert, dann sag es ihm doch deutlich.«
Katrin stellte sich dicht vor Waldhoff auf und schaute ihm dreist ins Gesicht. »Die Leute wollen kein Fleisch, das ein Mörder, vielleicht ein Mörder, uns verkauft. Hast du es jetzt verstanden?«
Sigi rannte davon. An der Ecke zum Ostwall sah er sich um. Da kam Vater. Er hatte das Rind beim Strick gefasst. Er sah aus wie ein alter Mann. Er musste sich auf den Rücken des kräftigen Tieres stützen. Sigi rannte weiter durch das Stadttor in die Felder. Er rannte, bis es in seiner Seite stach und das Herz ihm in den Schläfen pochte. Er warf sich ins Gras und wühlte den Kopf in die Arme.
9
Ruth wartete gegen halb neun auf Gerd. Sie war den Pfad hinaufgelaufen bis zu den drei dicken Buchen auf dem Hügel. Sie war außer Atem, und ihr Herz klopfte spürbar im Hals. Das lag nicht allein an ihrem schnellen Lauf.
Was mag er nur haben, dass er mich hier treffen will?, dachte sie; doch ihr Lächeln verriet, dass sie es längst ahnte. Sie setzte sich auf die Bank. Weit reichte der Blick über die alten Flussarme hin bis zum Strom. Zwei Reiher standen steif im seichten Uferwasser und lauerten auf Beute. Ruth griff in das hohe Kraut, das rings emporschoss, und riss eine Kamillenblüte ab. Vorsichtig zupfte sie die Blütenblätter rund um den gelben Knopf ab und trieb das alte Kinderspiel: »Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich …«
»Du lügst«, schimpfte sie halb laut und warf die gerupfte Kamille fort, als es beim letzten Blatt nicht so auskam, wie sie es gehofft hatte. Von der Großen Kirche schlug es halb. Da sah sie ihn den Pfad heraufstürmen. Schnell verbarg sie sich hinter dem Buchenstamm und presste ihren Rock fester an sich, damit er sie nicht verrate. Sie hörte seine Schritte. Die Reiher flogen auf, schwere
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