Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
allem bewundere ich, meine Herren, dass Sie immer so genau wissen, dass das Böse stets beim Nachbarn wohnt. Guten Morgen.«
Vor der Klasse gab sich Herr Coudenhoven fröhlich. Er teilte zunächst einmal für jeden ein Milchbrötchen aus. Alljährlich gab es diese Leckerei am 1. September. Es war ein Geschenk des Kaisers, süß und weich. Dem vereinigten Heere der deutschen Stämme verliehen die Brötchen Kampfesmut und Stärke, den Rothosen, den Franzosen, sollten sie wohl die vorgeschriebene Niederlage versüßen.
»Können nicht die Franzosen diesmal gewinnen, Herr Lehrer?«, fragte Hein Böckeloh.
»Das wäre für uns Deutsche nicht gut, wie?«
»Dürfen wir denn ordentlich raufen?«
»Natürlich sollt ihr tapfer sein, Jungs. In Grenzen natürlich, in Grenzen natürlich.«
»Wer ist denn diesmal Napoleon III.?«
»Hatten wir nicht im vorigen Jahr schon den III. und müssen jetzt den IV. haben?« Viktor Schwer hatte oft Probleme. Doch der Lehrer fegte sie mit einer Handbewegung auch diesmal hinweg.
»Geschichte! Geschichte!«, seufzte er.
»Karl Ulpius soll Napoleon sein«, sagte der dicke Wim. Weil er der Stärkste war, erklärten sich alle einverstanden. »Du bist mein Adjutant«, flüsterte Karl zu Sigi hinüber.
»Klar.«
Sie zogen los, drei und drei nebeneinander wie die richtigen Soldaten. Rote und weiße Wollfäden hatten sie um den Arm gebunden. Wer den Lebensfaden im Kampf verlor, war tot. Das achte Schuljahr sang: »Heute sind wir rot, morgen …«, das sechste: »Haltet aus im Sturmgebraus.«
Weil das siebte als Armee Napoleons wohl schlecht Trutz- und Schutzlieder singen konnte, blieb nur »Bruder Jakob, schläfst du noch«, das die Klasse sogar in einer Art Französisch daherkreischte, das aber schon allein deshalb auf keinen Menschen des Nachbarvolkes beleidigend gewirkt haben könnte, weil wohl kein Franzose je auf den Gedanken verfallen wäre, es handele sich hier um seine Muttersprache. »Fräreh Tschakke, fräreh Tschakke, dormeh wuuh …«, schallte es durch die Hohe Straße, vor dem Südtor und auch auf dem Grafenberg noch. Bis zehn Uhr hatten die Franzosen Gelegenheit in einer weiten, flachen Sandkuhle die Festung Sedan auszubauen. Dann mussten sie mit den Angriffen der Deutschen rechnen. In diesem Jahr hatten sie einen mächtigen Ringwall aufgeschüttet. Unmengen von Dorngestrüpp lagen im Ring. Die Kleinen standen bereit, es an die Wallseite zu werfen, die den Angriff der achten Klasse zu erwarten hatte. Den anderen waren die von der siebten körperlich wohl gewachsen. Sigi hatte ferner den Rat gegeben, dass alle ihr fein säuberlich aufgefaltetes Butterbrotpapier für die schwere Artillerie spendeten, obwohl es erst Dienstag war und das kostbare Papier doch eigentlich bis Samstag seine Dienste tun musste. Diese Papiere füllte er mit feuchtem Sand und drehte sie zu Bomben. Kurz vor zehn war alles bereit. Lehrer Coudenhoven setzte sich an den Rand der Sandkuhle. Während seine Kollegen die siegreichen Generale spielten, an ihrer Spitze Rektor Solle als eiserner Kanzler, hielt er es unter seiner Würde, etwa einen Verlierergeneral zu mimen. Was sollten die Jungen von ihm denken?
Er bemerkte, dass »dieser Ulpius« geschickt seine Mannen gruppierte. Schon marschierten die Deutschen heran, schlossen einen Ring um die Feste Sedan und warteten auf das Zeichen zum Sturm. Solle hatte das achte Schuljahr in diesem Jahr an die Steilböschung geschickt. Mit einem Sturmlauf wollten sie die Festung überrennen. Die kleineren Schüler stellten sich an der sanfter abfallenden Seite auf.
Jetzt tat Rektor Solle es dem von ihm verehrten Reitergeneral von Ziethen gleich, warf eine eigens für diesen Zweck vom Martinstag aufbewahrte Tonpfeife in die Luft und schrie: »Drauf und dran!«
Mit »Hurra! Hurra!« stürmten die Jungen dem Ringwall zu. Doch schon beim ersten Angriff erwies es sich als Fehler, den Großen den Steilhang zum Anlauf zuzuweisen. Sie kamen ins Rutschen, fielen, rollten den Hang hinab und wurden in dieser Lage von dem Dornengestrüpp der Franzosen empfangen, verhedderten sich darin, schimpften und kamen nicht recht vorwärts. Unterdessen hatte Napoleon III. einen Ausfall gegen die Kleineren befohlen, hastig rissen die Jungen den Preußen die Lebensfäden vom Arm und verloren nur Peterken Bosshage, der aber sowieso nur als halbe Portion angesehen wurde.
Solle blies zum Rückzug. Er änderte die Angriffstaktik. Wie im siegreichen Vorjahr sollten nun die Großen von der anderen
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