Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
Seite her angreifen. Der Sturm begann. Doch diesmal setzte Napoleon seine Artillerie ein. Auf den Sandhagel waren die Deutschen nicht gefasst. Er brachte Verwirrung in die Reihen. Fast wäre ihnen der Einbruch dennoch gelungen, weil Siegfried Wolter, der seinen Lehrer noch um Haupteslänge überragte, sich nicht an Sand und Papier störte. Er stand unversehens auf dem Wall. Doch da sprang Sigi ihn an und zerriss seinen Lebensfaden gerade in dem Augenblick, als er die Kriegsflagge, ein rotes Taschentuch an einem Fichtenstock, in den Sand pflanzen wollte.
Rückzug. Rektor Solle tröstete seine Helden. Schließlich sei Sedan ja auch nicht an einem Tag gefallen. Er gestattete zunächst eine Butterbrotpause. Fräulein Duttmeier setzte sich auf ihr Taschentuch neben Herrn Lehrer Coudenhoven.
»Finden Sie das denn nun so furchtbar, wenn die Jungen sich austoben?«, stichelte er.
»Das Spiel ist sicher eine richtige Jungensache. Sehen Sie sich nur die Augen an. Die Backen!«
»Na, was stört Sie denn?«
»Mich ärgert es, wie der Hass großgezüchtet wird. ›Die Franzmänner‹, rufen die Jungen, hören Sie doch nur. Und wie sie es rufen! Die einen halten die Franzosen allesamt für Feiglinge, verabscheuenswerte Elemente, denen man eins draufgeben müsse. Die anderen, die heute die Franzosen spielen müssen, sind vielleicht noch erbitterter darüber, dass es so etwas wie Franzosen überhaupt gibt auf der Welt. Das stört mich.«
Coudenhoven legte es darauf an, Fräulein Duttmeier zu reizen, und sagte: »Immerhin sind die Franzosen unsere Feinde.«
»Das stört mich allerdings noch mehr, Herr Kollege, dass Sie zwanzig Jahre nach dem Krieg noch so von einem Nachbarvolk denken.«
»Was kann schon Gutes von den Welschen kommen, Fräulein Duttmeier?«
»Ach, hören wir auf zu streiten. Sie wissen doch so gut wie ich, was die Franzosen in die Weltgeschichte eingebracht haben. Darin können sie sich mit uns gewiss messen.«
»Sie reden so anders als die meisten, Fräulein Dutt.« Herr Coudenhoven erlaubte sich die liebevoll gemeinte Kurzform ihres Namens.
»Anders oder nicht, Coudi, es kommt doch wohl darauf an, was richtig ist, oder?«
»Einverstanden«, seufzte er. Gegen dieses Frauenzimmer war einfach nicht anzukommen. Gerade das reizte ihn oft, ihr auch wider besseres Wissen zu widersprechen.
Aus der Grube klang plötzlich lautes Kampfgeschrei. Was war das? Die Pause der Deutschen war ja noch gar nicht zu Ende? Lehrer Coudenhoven sprang auf. Was stellten denn seine Franzmänner da an? Sie stürmten wie ein Keil in die mit dem Proviant beschäftigten vereinigten deutschen Truppen hinein. »Geschichte! Geschichte!«, schrie Herr Coudenhoven, eilte den Hang hinab und pfiff mit der Trillerpfeife den Angriff zurück, der den Franzosen bestimmt den Sieg gebracht hätte, weil er so völlig unerwartet und ganz gegen die Regel über die Preußen gekommen war. Mit hängenden Köpfen saßen die Franzosen schließlich wieder in ihrer Wallburg. Der Lehrer hielt ihnen eine Standpauke, die mit der entrüsteten Frage endete: »Wer war eigentlich der kluge Junge, der sich das ausgedacht hat?«
Napoleon III. trat vor. Einen Augenblick zögerte sein Adjutant. Dann stellte er sich neben den Freund. »Wir«, sagte er.
»Soso«, sagte der Lehrer. Er war recht froh, dass in diesem Augenblick ohne weiteren Angriff die Aufforderung zur Übergabe Sedans gebracht wurde. Napoleon nickte, als Lehrer Coudenhoven scharf sagte: »Nun?«
Die Franzosen wurden in die Gefangenschaft geführt. Aber bei den Deutschen wollte sich diesmal keine rechte Siegesfreude einstellen. Auf dem Schulhof fand die Schlussfeier statt. Gedichte, Lieder, Gedichte. Und die Ordensverleihung. Zum ersten Male sollten auch zwei Franzosen ausgezeichnet werden. Das hatte Fräulein Duttmeier durchgesetzt. So standen vor der angetretenen Schülerschar sieben Preußen, darunter der lange und wieder lebendige Siegfried Wolter, und auch Napoleon III. und sein Adjutant. Fräulein Duttmeier reichte dem Rektor die roten und blauen Auszeichnungen. Als Sigi seinen Stern aus der Hand des Rektors in Empfang nahm, trat plötzlich Siegfried Wolter vor und sagte: »Herr Rektor, ich will keinen Orden, den der Judenbengel auch bekommt.«
Rektor Solle war schockiert. Was erlaubte sich dieser Wolter?
»Mein Vater hat gesagt, es sei eine Schande, dass der Judenbengel überhaupt noch in unsere Schule gehen darf!« Damit warf er den Orden in den Korb zurück. Wie auf Befehl taten es die
Weitere Kostenlose Bücher