Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
erkannt.«
»Lass nur, Junge. Komm, wir sehen nach, wo die anderen stecken.«
Ruth hatte die Petroleumlampen angezündet und lief die Treppe hinunter. Mutter und Sigi gingen ihr nach. Mutters Nachthemd war mit großen dunklen Blutflecken besudelt. Sie betraten den Laden. Innen vor der Tür, den Kopf gegen das Holz gelehnt, stand der Vater. Weit hatte er die Arme ausgebreitet.
»Warum geschieht mir das, gerade mir?«, kam es aus seiner Kehle. »Ich habe geschuftet, dreißig Jahre lang geschuftet; das Geschäft habe ich aufgebaut, um jede Mark gehandelt. Nach gutem Vieh lief ich mir die Schuhsohlen ab, schleppte und schlug die Steine, habe das Haus gebaut! Sorgte ich nicht für die Familie, schaffte Geld für Essen und Trinken herbei? Am Sabbat und an den Festtagen betete ich in der Synagoge. Ich war zufrieden. Ich wollte ja nicht anders sein als die anderen Menschen: Leben, Arbeit, eine Pfeife Tabak am Abend und ein bisschen Glück. Warum werde ich aus all dem herausgezerrt? Warum darf ich nicht leben, wie alle leben? Ich will kein Schicksal! Ich bin kein Held! Ich konnte nicht vor sie hintreten. Ich bin kein Held!«
»Geht in eure Zimmer, Kinder«, sagte Mutter. Sie sagte es so, dass Ruth und Sigi ohne Zaudern gehorchten.
Sigi schüttelte die Glassplitter von seiner Zudecke. Irgendjemand ging unten auf der Straße vorbei. Sigi lauschte. Er wollte nicht allein bleiben, lief über den Flur und öffnete leise die Tür zu Ruths Zimmer. »Ich bin es, Ruth. Bei mir ist die Scheibe heraus.« Er setzte sich auf ihren Bettrand. Sie schlug ihm die Decke um die Schultern.
»Warum ist Gerd wohl nicht gekommen? Er muss den Lärm doch gehört haben?«
Das glaubte Sigi auch. Doch versuchte er, die Schwester zu trösten: »Er hat seine Kammer hintenheraus über der Werkstatt. Vielleicht hat er es verschlafen.«
Es war noch dämmrig, als Ruth und Frau Waldhoff die Scherben vom Pflaster fegten. Frau Waldhoff trug einen Verband um die Stirn. Sigi sammelte die Steine in einen Korb. Es war eine solche Menge, dass er die Last nicht anheben konnte. Vater nahm den Korb mit einem Ruck hoch und trug ihn, ohne abzusetzen, in den Hof.
Er ist doch stark, dachte Sigi und freute sich. Einige Männer gingen zur Arbeit. Die meisten schwiegen und gingen hinüber auf die andere Straßenseite. Aber Mehlbaum konnte es sich nicht verkneifen zu fragen: »Na, fängt der Waldhoff im Suff an zu toben?«
»Du müsstest es wohl wissen! Gerade du!«, antwortete die Mutter. Doch er lachte nur in sich hinein und ging weiter.
Vater lief in die Stadt zu einem Glaser. Niedergeschlagen kehrte er nach einer Stunde zurück.
»Keiner will für uns arbeiten, Hannah, keiner.«
Doch seiner Frau schien das nichts auszumachen.
»Keiner, Bernhard? Du irrst dich. Komm.«
Er folgte ihr über die Treppe in Sigis Zimmer. Der Glaser Koppernagel war gerade dabei, mit dem Glasschneider die Scheibe zu ritzen.
»Hast du ihn bestellt?«, fragte Waldhoff leise. Es war ihm unangenehm, Koppernagel zu sehen, denn er hatte noch nie zuvor bei ihm arbeiten lassen.
Koppernagel richtete sich auf. »Nein, Herr Waldhoff. Ich bin gar nicht bestellt. Ich bin so gekommen. Ich meine, in diesen Teufelstagen müssen doch wenigstens einige …« Er schluckte, fand keine Worte mehr, beugte sich über seine Scheibe und schnitt weiter.
»Danke, danke«, sagte Waldhoff nur.
14
In diesem Jahr musste die siebte Klasse am Sedanstag wieder die Franzosen darstellen. Das Los hatte es so bestimmt. Die Jungen waren missmutig. Auch dem Lehrer Coudenhoven gefiel es nicht. Er meinte, es sei nicht gut für eine Truppe, wenn sie schon vor Beginn des Kampfes wisse, dass das Ende eine beschämende Niederlage sei. Wenn das gar drei Jahre hintereinander geschehe, dann verliere dieses vaterländische Spiel an Wert, ja, es verkehre sich gar in das Gegenteil. Nicht die kämpferische Ertüchtigung, sondern Unlust am Kampf, das sei das Ergebnis. Das war Wasser auf Fräulein Duttmeiers Mühlen. Verdruss am Krieg, meinte sie, das sei das Einzige, was sie mit diesem Spektakel des Sedanstages einigermaßen versöhne. Das scheine ihr schon rechte Erziehung, wenn man die Jugend zur Tüchtigkeit im Frieden hinleite und nicht das Töten trainiere.
»Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt«, zitierte Rektor Solle. Doch Fräulein Duttmeier kannte in solchen Fragen nicht einmal Respekt vor der Meinung des Rektors. Sie behielt das letzte Wort und sagte schnippisch: »Vor
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