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Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft

Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft

Titel: Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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dich nicht hängen!«
    »Lass mich in Ruhe. Geh nur voraus. Ich komme dann schon.«
    Karl sprang zu ihm zurück und rüttelte ihn.
    »Komm jetzt, Sigi. Zum letzten Male: Komm jetzt!«
    Aber Sigi rührte sich nicht. Da holte Karl aus und schlug Sigi gegen seine Mütze, gegen den Schal, boxte ihn hart in die Seite. Sigi sprang auf, stürzte fast. Die Schlittschuhe fielen auf das Eis, Tränen rollten ihm aus den Augen.
    »Du Feigling! Warum schlägst du mich? Lass mich in Ruhe!«, heulte er. Doch er ließ sich vor Karl hertreiben.
    »Du Feigling, du hinterlistiger Feigling!«, schimpfte Sigi. »Damals, als sie Vater wegschleppten, da hast du mich im Stich gelassen. Und jetzt schlägst du mich.«
    »Mir ist es ganz gleich, was du sagst. Los! Weiter!«
    Karl warf sich Sigis Schlittschuhe über die Schulter. Endlich wurden die Schollen kleiner. Sie erreichten den Schnee, den Damm. Sigi wischte sich die Augen. Karl hängte ihm die Schlittschuhe wieder über. Sie warfen noch einen Blick auf die Brücke. Die lag verlassen im Licht des Schnees. Kein Mensch war mehr zu sehen, die Apostel nicht und auch Mehlbaum nicht.
    »Wir Esel«, sagte Karl. »Warum haben wir nicht ein wenig länger gewartet? Niemand mehr hätte uns Geld abverlangt.«
    Schweigend trottete Sigi neben ihm her. Die Schlittschuhe klirrten im Takt der Schritte. Erst vor der Haustür sagte er: »Danke, Karl.«
    »Wofür?«, wehrte der ab.
    »Für die Ohrfeigen.« Er ging davon. Doch dann drehte er sich noch einmal um und rief: »Aber ich zahle sie dir bei Gelegenheit zurück!«
    »Gemacht«, lachte Karl.
    Als Sigi leise in den Laden schlüpfen wollte, war die Tür verriegelt. Er klopfte.
    »Wer ist dort?«, hörte er Mutters Stimme. Gleich merkte er, dass irgendetwas nicht stimmte.
    »Ich bin es, Mutter.« Sie erkannte seine Stimme.
    »Endlich, Junge.«
    Er hörte das Knirschen des Riegels. Die Tür öffnete sich. Er sah Mutters blasses Gesicht. Sie hatte geweint.
    »Hast du dir Sorgen um mich gemacht, Mutter?«
    »Nein, Junge. Es ist wegen Vater.«
    »Was ist mit Vater, Mutter, was haben sie ihm getan?«
    Mit einem Male saß die Angst wieder in ihm, das Herz schlug hart, sein Magen schmerzte.
    »Sie haben ihn vor einer Stunde geholt.«
    »Verhaftet?«
    »Ja, Junge. Wieder verhaftet.«

24
    Diesmal hatten sie ihm nicht die Zeit gelassen, seine Angelegenheiten zu regeln. Gleich drei fremde Polizisten waren gekommen. Korrekt und barsch hatten sie getan, wie ihnen in der Kreisstadt befohlen worden war; dort wiederum hatte man eine Weisung des Sekretärs aus Berlin befolgt, die dieser aus dem Unbehagen im Innenministerium und aus ein paar Bemerkungen des Ministers abgeleitet hatte.
    Verstört standen die beiden Frauen und Sigi um den Tisch. Schließlich entzündete Frau Waldhoff die Kerzen der Sabbatlampe. Sigi sprach den Segen über den Wein im silbernen Kidduschbecher und über die beiden geflochtenen Brote. Das Abendbrot blieb unberührt. Frau Waldhoff wollte sich zwingen, ein wenig zu essen, aber schließlich gab sie es auf. Sie erhob sich schwerfällig, ging in die gute Stube und trug die Thorarolle herein, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Es war eine sehr alte Schrift, die durch viele Generationen in der Familie von zittrigen, faltigen Händen in glatte, junge weitergegeben worden war. Bislang hatte Waldhoff aus dieser kostbaren Schrift nur vorgelesen, wenn sie beim Passahfest zusammensaßen und feierten. Frau Waldhoff bezeichnete den Abschnitt. Sigi las vor. Seine Stimme klang rau und brüchig. Gleich an den ersten Zeilen erkannte er, dass Mutter den Bericht vom Auszug des geknechteten Volkes aus Ägypten ausgewählt hatte. Er hielt nicht ein, bis er an jene Stelle kam, die schilderte, wie der Pharao Rosse und Reiter rüstete und sich aufmachte, das fliehende Volk zu verfolgen.
    Seine Augen hafteten noch auf dem Pergament, auf den wunderlich geschlagenen Buchstaben. Er schwieg. In die Stille hinein sprach Mutter: »Wenn der Sabbat vorüber ist, werden wir ziehen.«
    »Du meinst, wir gehen ganz fort von hier?«, fragte Ruth.
    »Ja, wir ziehen nach Neuß.«
    »Nur weg von hier, nur weg.« Ruth sprang auf. Der Gedanke, dass sie diesem Orte bald den Rücken kehren würden, belebte sie.
    Auch Sigi atmete auf. Endlich würde es etwas zu tun geben. Endlich sollte dieses elende Warten ein Ende nehmen, dieses Warten auf irgendetwas, das niemand genau kannte, das niemand zu greifen vermochte, und das sich drohend und schwer über das ganze Haus gelegt hatte. Neuß,

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