Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
haben. Doch Dlugy hatte Pech, er blieb mit den Füßen an einem Wasserschlauch hängen und stürzte rückwärts zu Boden. Schon kniete Tilkowski auf ihm und machte sich daran, ihn fürchterlich zu verdreschen.
Als Dlugy endlich wieder auf den Beinen stand, war er im Gesicht fürchterlich zugerichtet.
«Das gibt Rache», murmelte er, als er auf die Straße hinkte.
VIER
Freitag, 23. September 1910
HERMANN KAPPE hatte Feierabend und überlegte, ob er vom Polizeipräsidium nach Hause laufen oder sich eine Fahrt mit der Straßenbahn gönnen sollte. Vom Alexanderzum Mariannenplatz waren es keine drei Kilometer, also von der Entfernung her ein Klacks für ihn, doch Pflastertreten war mühsam. Er beschloss, das Problem durch eine Art Gottesurteil zu lösen: Kam gerade eine 22 oder 46 die Alexanderstraße entlang, wenn er die Haltestelle passierte, wollte er einsteigen, kam keine, würde er zu Fuß nach Hause laufen. Die 46, unterwegs nach Rixdorf, kam herangerumpelt, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als einzusteigen. Er wählte die vordere Plattform, denn wie ein kleiner Junge liebte er es, dem Mann an der Kurbel beim Fahren über die Schulter zu schauen. Schon wurde abgeklingelt. Der Fahrer löste die Bremse und schaltete die Motoren hoch. Bald aber musste er schon wieder anhalten, um nach links in die Kaiserstraße abzubiegen. Kappe war schon so oft mit der 46 gefahren, dass er die Strecke ganz genau kannte: Alexanderstraße - Kaiserstraße - Große Frankfurter Straße - Andreasstraße - Schillingbrücke - Köpenicker Straße - Adalbertstraße - Waldemarstraße.
«Noch jemand ohne Fahrschein?» Hinter ihm klimperte der Schaffner ebenso fordernd wie ungeduldig mit dem «Galoppwechsler», den er auf der Brust hängen hatte.
«Moment. ..» Kappe griff in seine Brusttasche - und erbleichte. Da steckte keine Brieftasche. Gott, die hatte er in seiner Schreibtischschublade liegenlassen. Als würde er sich nun selber einer Leibesvisitation unterziehen, klopfte er sich mit beiden Händen alle Taschen ab. Nichts. Wie peinlich. Wenn der Schaffner jetzt halten ließ, um einen Schutzmann zu rufen, dann war er blamiert bis in alle Ewigkeit. Entweder sie spotteten über ihn als Dorfdeppen, der nicht wusste, dass man in Berlin für eine Straßenbahnfahrt zu bezahlen hatte, oder sie unterstellten ihm, er habe die Straßenbahngesellschaft um das Fahrgeld prellen wollen. «Ich will zur Waldemarstraße. .. Bis dahin werde ich schon noch zwei Groschen in meinen Taschen gefunden haben.»
«Hoffen und Harren macht manchen zum Narren», erwiderte der Schaffner.
Kappe war verzweifelt. Da hörte er eine Frauenstimme aus dem Innern des Wagens. «Kommen Sie, Herr Schaffner, ich zahle schon für meinen Mann.»
Er fuhr herum - und stand da wie vom Schlag getroffen. Wenn er sich nicht täuschte, war das Klara Göritz aus Wendisch Rietz. Sie war etwas jünger als er, und bevor sie nach Berlin gegangen war, hatte er sie angebetet. Bei jedem Fest hatten sie miteinander getanzt, und er hatte immer damit geprahlt, sie sei seine Braut, aber der Funke war nie so richtig übergesprungen, und sogar gegen einen flüchtigen Kuss hatte sie sich gewehrt.
«Du hier. ..?!» Er starrte sie an, gebannt von dem Gedanken, dass es nur die Macht des Schicksal sein konnte, die sie hier zusammenführte.
«Ja, ich hier.» Sie löste den Fahrschein für ihn.
«Danke. Wie kann ich das wiedergutmachen, das heißt, dir das Geld. .. das du. ..» Kappe begann zu stottern und hatte das Gefühl, mächtig rot zu werden. Seine Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht waren nicht so groß, dass er den Lebemann spielen konnte. «Darf ich dich nachher zu einer Tasse Kaffee einladen?»
Klara Göritz blickte in ihr Portemonnaie. «Ja, das können wir uns noch leisten.»
«Dann fahren wir zum Görlitzer Bahnhof und setzen uns da in ein Restaurant?»
Sie zögerte einen Augenblick. «Ich muss nach Hause, ich bin schon. ..»
«Dein Bräutigam?», fragte er. Es war ihm so herausgerutscht. Sie gab sich sibyllinisch. «Vielleicht. Nein, ein andermal.» Kappe wusste nicht genau, worauf sich dieses Nein bezog, wollte aber die ihm verbleibende Zeit unbedingt nutzen, sich fest mit ihr zu verabreden. Er musste sie wiedersehen! «Erzähl doch mal schnell, was du jetzt so machst und wo du wohnst.»
«Wo ich wohne?» Wieder zögerte sie. «In Rixdorf, in der Pannierstraße. Ich bin Verkäuferin bei Rudolf Hertzog.»
Manchmal ist es ein einziger Satz, leichtfertig
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