Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
dahingesagt, der das Leben eines Menschen entscheidend lenkt. Bei Klara Göritz war es so, als ihr der Pfarrer im Konfirmationsunterricht verraten hatte, dass sich ihr Vorname aus dem Lateinischen herleite. «Da heißt nämlich clarus, -a, -um so viel wie hell, glänzend, berühmt.» Von da ab wollte sie nur noch glänzen. Da das in Wendisch Rietz als Tochter eines Holzarbeiters nur schwer möglich war, hatte sie alsbald ihren Koffer gepackt, um in Berlin in Stellung zu gehen. Nach einigem Hin und Her war sie bei einem Abteilungsleiter des Kaufhauses Rudolph Hertzog untergekommen und durch dessen Fürsprache dort später als Verkäuferin eingestellt worden.
«Bei Rudolph Hertzog», wiederholte Kappe. «Nicht schlecht. Ich bin Kriminalwachtmeister und wohne auch in Rixdorf.»
Sie lachte. «Du lügst, du willst mich nur nach Hause bringen.»
«Ich gestehe alles. Wann sehen wir uns denn nun wirklich?» Klara zuckte mit den Schultern. «Wenn der Zufall es wieder einmal will.»
«Das dauert mir zu lange. Dann besuche ich dich eben bei Rudolph Hertzog.»
«Danke für die Warnung. Aber ich arbeite in der Abteilung für Damenwäsche.»
«Macht nichts, ich werde mich verkleiden. Als Kriminaler lernt man das.»
«Waldemarstraße. .. Du bist da, nun steig mal aus.» Huldvoll hielt sie ihm die rechte Hand hin.
Kappe war verwirrt. Sollte er die nun nehmen und sie drücken - oder sollte er einen Handkuss auf den Seidenhandschuh hauchen? Er entschied sich für die schnelle Flucht und sprang vom Wagen, bevor der gehalten hatte. Dann winkte er ihr hinterher, während die 46 in Richtung Lausitzer Platz entschwand.
Die Welt war ein Irrenhaus. Da streifte er durch Berlin, um seinen Mörder zu finden - und traf seine große Liebe.
Gedankenverloren lief er die Waldemarstraße entlang und merkte gar nicht, dass einer seiner Nachbarn gerade aus einem Kolonialwarenladen trat.
«Hallo, Herr Kappe! Sie hier und gar nicht in Moabit?» Kappe fuhr herum. «Ach, Sie. .. Was soll ich in Moabit?»
«Na, die Streikbrecher schützen.» Theodor Trampe, zehn Jahre älter als Kappe, wohnte mit seiner Frau und den drei Kindern auf derselben Etage, sodass Kappe ihm mehrmals in der Woche über den Weg lief. So ganz lieb war ihm das nicht, denn im ganzen Kiez war bekannt, dass Trampe Funktionär bei den Sozialdemokraten war, zwar nur kleiner Kassierer, aber dennoch. Kappe wusste, dass seine Vorgesetzten es nicht gerne sahen, wenn Polizeibeamte Umgang mit den Sozis hatten. Er hatte sich auch schon vorsichtig nach Trampe erkundigt, und es hieß, der habe das Zeug zu einem Reichstagsabgeordneten. Gefährlich sei er auch deswegen, weil er dafür war, die Monarchie abzuschaffen und das Deutsche Reich zu einer Republik zu machen. Von Beruf war er Elektroinstallateur und verdiente, da immer mehr Berliner Häuser an das Stromnetz angeschlossen wurden, gutes Geld. Immer, wenn er Leitungen verlegte oder zerstörte Kabel reparierte, agitierte er und suchte den Leuten nahezubringen, was die SPD in ihrem Programm stehen hatte.
«Ich habe mich nicht um die Streik-, sondern um die Einbrecher zu kümmern», erklärte Kappe dem Nachbarn.
«Warum werden denn Menschen zu Einbrechern?», fragte Trampe, um die Antwort gleich selber zu geben. «Weil die Bourgeoisie ihnen nicht das gibt, was nötig ist, um ein glückliches Leben führen zu können.»
«Und darum schießen sie, wenn man sie stört, auf einfache Schutzleute wie mich», entgegnete Kappe.
«Für den Mann, der auf sie geschossen hat, war es sozusagen Notwehr gewesen - er hatte nicht ins Zuchthaus wandern wollen.»
Kappe winkte ab. «Es gibt Grenzen, Trampe, feste Grenzen. Wie heißt es? Du sollst nicht töten. Das gilt auch dann, wenn man bei einem Einbruch erwischt wird.»
«Man kann die Menschen auch ganz anders töten: mit Hungerlöhnen, einer elenden Wohnung, damit, dass man ihnen keine Arbeit gibt. .. Das sind die großen Verbrechen.»
«Ich bin nur für die kleinen Verbrechen zuständig», sagte Kappe.
Damit waren sie vor dem Mietshaus Waldemarstraße 73 angekommen, das etwa zwischen Mariannen- und Lausitzer Platz gelegen war. Kappe mochte die Gegend. In ein paar Minuten war er am Görlitzer Bahnhof und an der Hochbahnstation Oranienstraße. Wurde man krank, lag die Diakonissen-Anstalt Bethanien gleich um die Ecke. Wollte man sich die Füße vertreten, konnte man am Ufer des Luisenstädtischen Kanals und des Engelbeckens lustwandeln. Auch Läden und Kneipen gab es in Hülle und Fülle.
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