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Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Titel: Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Bosetzky
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auszutoben, hatten zwar das Straßenpflaster aufgerissen, nutzten die Steine aber noch nicht, um die Schutzleute damit zu bewerfen. Diese wiederum zogen die Säbel zwar blank, attackierten aber noch niemanden. Die Staatsmacht hielt sich zurück und nahm es ohne große Reaktionen hin, dass die Streikenden Kaufhäuser und kleine Läden zwangen, Plakate ins Schaufenster zu hängen, auf denen groß zu lesen war, dass sie Streikbrecher weder mit Lebensmitteln noch mit Schlafdecken beliefern würden. Der Polizeimajor Klein hatte vorsichtshalber eine Verstärkung des zuständigen und des Nachbarreviers angeordnet, um für alle Fälle Mannschaften zur Stelle zu haben, doch seine Beamten verbrachten ruhige Tage.
    Die Lunte mochte glimmen, aber es sah lange Zeit nicht danach aus, dass sie das Pulverfass erreichen würde.
    Am Freitag aber spürte jeder, dass etwas in der Luft lag. Es war schwer zu sagen, was die Stimmung der Leute immer mehr anheizte. Bei den organisierten Arbeitern um Gustav Dlugy war es die Ohnmacht dem Kapital gegenüber, die sie immer aggressiver werden ließ. Die Gegenseite zeigte sich so wenig verhandlungs- und kompromissbereit wie am ersten Tag. Was die Arbeiter besonders reizte, war das Gerücht, dass Hugo Stinnes nicht nur Streikbrecher aus Hamburg nach Berlin gebracht, sondern auch beim preußischen Innenministerium interveniert und den Einsatz von tausend Schutzmännern gefordert haben sollte. Aber die Menge, die sich in der Sickingenstraße angesammelt hatte, bestand nicht nur aus sozialdemokratischen Arbeitern und anderen ansonsten sehr gesetzestreuen Bürgern, die nur ihrer Schaulust frönen wollten, sondern auch aus Menschen, die man viele Jahrzehnte später Autonome, Anarchos, Desperados oder Outlaws nennen sollte. In den Zeitungen des Jahres 1910 wurden sie als «Ausständige», als
    «Tumultuanten» oder als «Mob» bezeichnet, aber auch mit einem veralteten Begriff als «Janhagel», als Pöbel also, oder schließlich als
    «Exzedenten», mithin Menschen, die etwas überschreiten. Dazu kamen einige wirklich Kriminelle. Ob sie alle instinktiv fühlten, dass die alte Ordnung immer morscher wurde und man viel mehr riskieren konnte als noch zwanzig Jahre zuvor, war fraglich, aber es genügte ein kleiner Funke, um den ersten ernsthaften Zusammenstoß zwischen Polizei und Menge auszulösen und dafür zu sorgen, dass die «Moabiter Unruhen» - so sollten sie in die Geschichtsbücher eingehen - begannen.
    Ein Milchwagen kam vorüber, und jemand schrie: «Habta schon jehört, det Bolle mit seine Pferde den Stinnes unterstützen tut? Los, wir spannen dem ma die Jäule aus und jagen se uff de Weide!»
    «Wat heißt uff de Weide?! Wir machen Hackfleisch aus sie und essen se uff.»
    Daraufhin schlug der Kutscher mit seiner Peitsche derart kräftig auf seine beiden Braunen, dass die durchgingen und das Mädchen hinten vom heftig anruckenden Wagen stürzte. Die einen johlten, die anderen hatten Mitleid mit dem armen Ding.
    «Det is die Frieda», rief einer und half ihr wieder auf die Beine. «Wat kann die dafür?»
    «Is det etwa deine Braut?»
    «Nee, aber. .. die is schon jestraft jenuch damit, wie se aussieht.»
    Das bezog sich darauf, dass das blau-weiße Kleid des Bollemädchens zerrissen war und sie sich das Gesicht ziemlich aufgeschrammt hatte. Aus Mund und Nase blutete sie. So ließ man sie zum Wagen humpeln und wieder aufsteigen.
    Die Menge suchte nach neuer Beute. Sie war wie ein Tier, das plötzlich Blut geleckt hatte. Jeder Einzelne für sich hätte anders gehandelt, nun aber hatte er seine Individualität verloren und war mit den anderen zu einem Ganzen verschmolzen, einem archaischen Wesen, das alle Lust daraus bezog, das vernichten zu wollen, was feindlich, was anders war: die da oben - alle Fürsten und Beamten, alle Konzernherrn und Magnaten, die das Volk kujonierten und aussaugten, und alle ihre Knechte und Lakaien, vom Streikbrecher bis zum Schutzmann.
    Und so kam, was kommen musste: Am frühen Abend attackierte man einen Kohlenwagen von Kupfer & Co., um die beiden Streikbrecher vom Kutschbock zu zerren und zu lynchen.
    «Schlagt sie tot, die Schweine!»
    Doch sofort waren die berittenen Schutzleute dazwischen und zogen blank. Zugleich sah man die Streikbrecher Pistolen hervorholen. Wütend schrie die Menge auf und wich zurück. Für heute schien das reißende Tier gebändigt.

FÜNF
Sonnabend, 24. September 1910
    AN DIESEM VORMITTAG hatte es Hermann Kappe schwer, sich auf Dienstliches zu

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