Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
Cháles - Tücher - Weisse Waren - Schwarze Stoffe. Gott, woher sollte einer wie er das Geld nehmen, das alles zu bezahlen? Ihm wurde wieder einmal bewusst, wie klein und unbedeutend er doch war. Sie würden ihn rauswerfen, wenn er das Haus betrat. Ach nein, er war ja nicht als Privatmann hier, sondern dienstlich. Und als Kriminalwachtmeister trat er sozusagen als Beauftragter des Kaisers in Aktion.
Also straffte er sich, ging über die Straße und trat in die Eingangshalle. Und nun? Wo, hatte Klara gesagt, würde sie arbeiten? Gott, das war ihm entfallen.
«Sie wünschen, mein Herr?» Eine Art Empfangschef war auf ihn zugekommen.
«Ich?» Kappe kaute an der Unterlippe. «Ich wünsche mir Fräulein Göritz. .. Pardon. .. mit Fräulein Göritz, mit. .. Also. .. ich bin hier, um. ..» Ja, weswegen war er eigentlich hier, was hatte Galgenberg gesagt?
Es war ihm klar, dass man ihn in der nächsten Sekunde auf die Straße setzen würde.
Eigentlich war das Kaffeetrinken am Sonnabend bei den Hagenhausens eine rituelle Handlung, die durch nichts gestört werden durfte, doch heute war alles ein wenig anders, denn Paul und Otto, die beiden Söhne von zwölf und vierzehn Jahren, waren vom Besuch bei ihrer Tante Wilhelmine noch immer nicht zurückgekommen.
«Langsam mache ich mir Sorgen», sagte Johanna Hagenhausen. «Wegen der Unruhen. Vielleicht hat es Barrikadenkämpfe gegeben, und die Kinder sind dabei. ..»
«Barrikadenkämpfe», brummte Magnus Hagenhausen. «Unsinn, wir haben nicht 1848.»
«Aber es brodelt doch überall im Reich», wandte sie ein. «So viele Streiks und Aussperrungen wie dieses Jahr soll es noch nie gegeben haben.»
«Lass es brodeln.» So schnell ließ sich Magnus Hagenhausen nicht aus der Ruhe bringen. Er verlor erst die Contenance, als seine beiden Buben nach Hause kamen und ihren Eltern freudestrahlend gut zwei Dutzend Presskohlen vor den Küchenherd legten.
«Wo habt ihr die denn her?»
«In der Beusselstraße haben die Leute Jagd auf einen Kohlenwagen gemacht, und als der schnell weg ist, sind die runtergefallen.» Sie waren stolz auf ihre Beute und hatten so schwer an ihr zu tragen gehabt, dass ihnen der Schweiß von der Stirn tropfte.
Magnus Hagenhausen konnte es nicht fassen. «Meine Kinder Diebe! Dass ich das noch erleben muss!»
«Die haben wir nicht gestohlen, die haben wir gefunden, Papa», wagte sich Otto zu verteidigen.
Sofort bekam er links und rechts eine gescheuert. «Kohlenwagen plündern, das ist die reinste Anarchie - und ich dulde keine Anarchisten in meiner Wohnung. In die Erziehungsanstalt gehört ihr! Los, ab in die Kammer! Zwei Stunden Arrest.» Die Jungen wurden eingesperrt.
Johanna Hagenhausen wollte ihren Gatten milder stimmen.
«Komm, iss erst einmal ein schönes Stück Käsekuchen, und trink einen Schluck Kaffee.»
«Kalten Kaffee», ergänzte er. «Wohin soll das alles bloß noch führen? «
«Ja, wohin?», seufzte Johanna Hagenhausen. «Mein Chef hat immer gesagt: Kinder, kauft Kämme, es kommen lausige Zeiten.»
«Seit wir unseren Kaiser Wilhelm II. haben, gibt es nur noch herrliche Zeiten», sagte Magnus Hagenhausen und wusste wohl selber nicht, ob er das ernstlich dachte oder nur spöttelte.
Er war seit den Tagen der Eröffnung im Herbst 1902 Fahrer bei der Berliner U- und Hochbahn und stellte als solcher, zumal er eine Uniform trug, durchaus etwas dar. Reichsbahn wäre noch besser gewesen, dann hätte er aber nicht jeden Abend nach Hause gekonnt. Sie wohnten in der Thomasiusstraße, und es ärgerte ihn schon, dass er die Viadukte der Stadtbahn direkt vor der Haustür hatte, nicht aber seine Hochbahn. Wurde er am Zoologischen Garten oder am Knie abgelöst, hatte er ein ganz schönes Stück zu laufen, aber das Fahrgeld für die Stadtbahn sparte er sich lieber. Vielleicht reichte es doch einmal für eine kleine Parzelle in Rosenthal, Wilhelmshagen oder Schmöckwitz.
Johanna Hagenhausen hatte, bis die Kinder gekommen waren, als Stenokontoristin bei der AEG gearbeitet. Aufgewachsen war sie in der Rostocker Straße, in der ihre Schwester noch immer wohnte. Sie war von der Herkunft her Jüdin, aber ihre Eltern hatten sich beide taufen lassen, sodass das für sie keine Rolle mehr spielte. Dennoch erschrak sie nicht wenig, als sie im Berliner Lokal-Anzeiger in der Rubrik «Aus den Gerichtssälen» eine Notiz las, die sie bei der ersten Lektüre gar nicht wahrgenommen hatte:
Körperverletzung in der Turnstunde. - Vor dem Jugendgericht Berlin-Mitte stand
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