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Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Titel: Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Bosetzky
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gestern unter der Anklage der schweren, das Leben gefährdenden Körperverletzung der 13jährige Gymnasiast Harry H. In der Turnhalle des Königstädtischen Gymnasiums hatte am 31. Januar d. J. die Untertertia Turnen. Beim Kürturnen schieden mehrere Schüler aus. Unter diesen befand sich auch der Tertianer L. H., der sich gleichfalls nicht am Turnen beteiligte, ging zu dem Schwebebaum, auf dem eine Reihe von Schulkameraden saßen. Die Knaben wollten nun ein Spiel arrangieren, und dabei hob ein Mitschüler den H. von hinten hoch. Wie nun L. angibt, hörte er plötzlich den Angeklagten rufen: «Pass auf, jetzt kriegst du ein Ding in den Blinddarm!», und im nächsten Augenblick erhielt er von H. einen Fußtritt gegen den Bauch. Am folgenden Morgen musste er sich zu Bett legen. Wie in der gestrigen Verhandlung durch Befragen des Verhandlungsleiters, des Amtsgerichtsrates Köhne, festgestellt wurde, pflegte zwischen den Schülern der evangelischen und jüdischen Konfession eine gewisse Spannung zu herrschen. Oft hätten die jüdischen Schüler unter den antisemitisch denkenden Mitschülern zu leiden, und einmal gab es auf dem Korridor einen förmlichen Auftritt. In der weiteren Beweisaufnahme wurde ausgesagt, dass der Angeklagte am folgenden Tag, als ihn die Mitschüler wegen des Vorgangs zur Rede stellten, erklärt habe: «Wenn er abschrammt, dann zahle ich.» Der Amtsanwalt beantragte eine Gefängnisstrafe von drei Tagen und 500 Mark Buße. Das Gericht hielt den vollen Beweis nicht für erbracht, dass vorsätzliche Körperverletzung nicht vorliege. Es erkannte nur wegen fahrlässiger Körperverletzung auf einen Verweis und auf Zahlung einer Buße von 300 Mark.
    «Das verstehe ich nicht ganz», sagte Johanna Hagenhausen und schob ihrem Mann den Artikel hinüber. «Lies du mal, bitte.»
    «Wenn’s unbedingt sein muss.» Brummig machte er sich an die Lektüre. «Wenn ich das richtig verstehe, ist der jüdische Schüler der Täter und der christliche das Opfer.»
    «Anders als bei den Pogromen», sagte Johanna Hagenhausen.
    «Bei der Pest haben sie den Juden auch immer alles in die Schuhe geschoben. Nun ist es eben die Blinddarmentzündung.» Magnus Hagenhausen legte die Zeitung wieder beiseite. «Und was machen wir nun mit unseren beiden Schülern? Amnestie oder. ..?»
    «Sie haben’s doch nur gut gemeint.»
    «Na schön, aber sie sollen die Kohlen zu Kupfer & Co. zurückbringen.»
    Seine Frau sah ihn fassungslos an. «Meinst du wirklich?»
    «Ja, hier geht es ums Prinzip.»
    Sie zögerte. «Ich möchte eigentlich nicht, dass sie in die Sickingenstraße gehen. Wenn der Mob da wieder wütet und sie. ..»
    Magnus Hagenhausen war von Hause aus ein gutmütiger Mensch. «Gut, dann nehmen wir sie mit, wenn wir nachher deine Schwester besuchen.»
    Und tatsächlich packte er sich die Briketts in seinen grauen Rucksack, als sie sich kurz vor Einbruch der Dämmerung auf den Weg machten. Von der Thomasiuszur Rostocker Straße waren es keine zwei Kilometer, und verlaufen konnte man sich nicht. Im gemütlichen Schritt war man in einer halben Stunde am Ziel.
    Doch nicht an diesem Abend. Nicht, weil Magnus Hagenhausen an den gestohlenen Kohlen so schwer zu schleppen hatte, sondern weil ihnen in der Thurmstraße eine Schar aufgeregter Menschen entgegenkam, darunter eine alte Bekannte.
    «Gehen Sie bloß nicht weiter!», rief sie. «In der Rostocker Straße ist die Hölle los. Ein Streikbrecher hat auf einen Streikposten geschossen. Einen Kohlenwagen haben sie gestürmt und zerstört, Polizisten und Streikbrecher entwaffnet. Jetzt ist alles blau von Polizisten. Und auf die werfen sie aus den Fenstern Blumentöpfe.»
    «Das ist ja die reinste Anarchie», sagte Magnus Hagenhausen ohne eine Spur von Ironie.
    «Ich muss unbedingt nach Wilhelmine sehen!», rief Johanna Hagenhausen in tiefer Sorge um ihre Schwester.
    «Bist du verrückt?!» Ihr Mann war entsetzt. Er hatte Angst, mit in den Strudel gerissen zu werden. Er schob alles auf die Kohlen, die er im Rucksack hatte. «Wenn ich mit denen verhaftet werde, komme ich in Teufels Küche.»
    «Dann wirf den Rucksack hier in den Rinnstein.»
    «Das schöne Stück! Was der gekostet hat», jammerte er.
    «Ich muss unbedingt zu meiner Schwester», wiederholte Johanna.
    Nachdem sie ein paar Minuten diskutiert hatten, kam ihr die Idee, sich doch von hinten der Rostocker Straße zu nähern.
    «Wir schleichen uns an über die Emdener, die Wiclef- und die Wittstocker Straße.»
    «Na gut, dein Wille

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