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Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Titel: Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Bosetzky
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konzentrieren, denn sein Denken kreiste nur um eines: die Frage, wie er Klara Göritz wiedersehen konnte. Noch einmal auf den Zufall zu hoffen war absurd. Da konnte er womöglich sein ganzes Leben ununterbrochen Straßenbahn fahren, ohne dass er sie noch einmal traf. Er war kein Poet, er wusste nicht, wie er seine Gefühle in Worte kleiden sollte, aber es war ihm, als würde er Klara so nötig brauchen wie die Luft zum Atmen. Er starrte aus dem Fenster und stellte sich vor, ein Vogel zu sein, der sich in die Lüfte erhob und zu ihr flog.
    «Was ist mit Ihnen, Kappe, haben Sie einen Anfall?» In der Tür stand Galgenberg, sein älterer Kollege, feixte und reimte: «Die Liebe ist een Feuerzeug, / det Herz, det is der Zunder, / und fällt een kleenet Fünkchen rin, / so brennt der janze Plunder!» Dann sah er ihn durchdringend an. «Ich warte auf Ihr Geständnis, junger Mann! Wer ist sie? Name, Herkunft, Aussehen, Aufenthaltsort?»
    Kappe sprach nur zu gern über Klara und verriet dem Älteren alles, was er wusste. «Wir sind zusammen aufgewachsen, aber hatten nie so richtig Interesse aneinander. Bis ich sie gestern zufällig in der 46 getroffen habe.»
    «Zufall?», fragte Galgenberg. «Nischt is im Leben Zufall, allet Fügung. Wer Jott vertraut und Bretter klaut, der hat ’ne billige Laube.»
    Gustav Galgenberg war ein verhinderter Schauspieler, ein Komiker, dessen drastischer Witz ebenso beliebt wie gefürchtet war. Seine Spezialität war der Galgenhumor. «Wat soll bei meinem Namen ooch anderet rauskommen», betonte er immer wieder. Seine Frau war Beiköchin in einem Hotel in der Nähe des Gendarmenmarktes, und auch am heimischen Herd gab sie ihr Bestes, sodass er seinen Gürtel jedes Jahr ein paar Zentimeter weiter schnallen musste. «Lieber ’n bissken mehr und dafür wat Jutet», war die Devise ihrer überaus glücklichen Ehe. «Solange ick nich so dick bin, det ick bei meine Hertha nich mehr rinkomme, esse ick weiter. Noch jeht es aba.» Fünf Kinder, das letzte gerade eben auf die Welt gekommen, bewiesen die Richtigkeit seiner Aussage. Er war ein gutmütiger und biedermeierlicher Mensch und fand, dass man im Deutschen Reich und unter Kaiser Wilhelm II. so gut leben konnte wie sonst nirgends auf der Welt. Diese Ordnung war eine gute Ordnung, und wer sie störte, der musste eliminiert werden. Darum war er auch mit Leib und Seele Kriminalwachtmeister.
    «Ich würde ein Jahr meines Lebens dafür hergeben, wenn ich Klara heute sehen könnte», seufzte Kappe. «Wie sie bei Hertzog steht und die Leute anlächelt.»
    Galgenberg kratzte sich am Hinterkopf. «Ach ja. .. In Charlottenburg am Knie / sah ick ihr, die Marie. / Als ick ihr am Knie jesehn, / war et jleich um mir jeschehn.» Er begann in den Papieren zu wühlen, die auf seinem Schreibtisch lagen. «Bei uns herrscht Ordnung, da liegt der Kamm neben der Butter. Haben wir denn nüscht, wat bei Rudolph Hertzog anliegt? Gott, da war doch letzte Woche eine Anzeige, dass einer Dame die Handtasche gestohlen wurde, während sie. .. Hier, da isset.» Er drücke Kappe den Vorgang in die Hand. «Det lesen Se sich mal durch, und dann recherchieren Se noch mal an Ort und Stelle. Wer, was, wann und wie?»
    Kappe sprang auf, und wenn er das Licht der Welt in Verona statt in Wendisch Rietz erblickt hätte, wäre er Galgenberg glattweg um den Hals gefallen, so aber beließ er es bei einem herzlichen Dankeschön. Keine Viertelstunde später war er auf dem Weg in die Breite Straße. Die führte vom Schlossplatz zum Köllnischen Markt, und er brauchte nur am Alexanderplatz unter der Stadtbahn hindurch und dann ein kurzes Stück die Königstraße entlanggehen, schon war er da. Doch mit jedem Schritt hoffte er mehr, dass es noch lange dauern würde, bis er ihr gegenüberstand. Wenn sie ihn nun völlig missachtete oder schnippisch anmerkte, dass sie am Wochenende schon etwas Besseres vorhabe, als mit ihm auszugehen? Womit er sie ködern wollte, war der Vorschlag, mit seinem Freund Gottlieb Lubosch als Anstandswauwau einen Ausflug nach Wendisch Rietz zu machen, hin zu den Stätten ihrer Kindheit und Jugend.
    Beklommen stand er auf der anderen Straßenseite und sah hinüber zur endlos langen Fassade des Kaufhauses. Wie der Tempel einer fremden Religion erschien es ihm. Auf großen Transparenten und Schildern wurde angepriesen, was es hier zu kaufen gab: WAESCHE - AUSSTEUER - MAENTEL - CONFECTION - SCHIRME - FAHNENTUCHE. Und kleiner: Tricotagen - Strümpfe - Schlaf- und Steppdecken -

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