Es ist ja so einfach
die kleine Dawn Masters kam heulend zu mir gerannt. »Er ist fort! Ist ertrunken! Ich habe ihn verloren — muß ins Meer gespült sein. Ach, mein liebes Hähnchen!«
Das war eine Tragödie. Als ich Dawn so weit hatte, daß sie nicht mehr schluchzte, vernahm ich ihr trauriges Erlebnis. Anscheinend hatte das Kind, die Bestimmungen mißachtend, den Zwerghahn für die Nacht mit ins Zelt genommen. Es sei, wie sie beichtete, nicht das erste Mal gewesen, aber das Tierchen sei ja so brav! Mir war nun klar, weshalb ich das durchdringende Krähen in der Frühe so deutlich gehört hatte — . Als sie in dem allgemeinen Tumult wach wurde, war ihr erster Gedanke, ihren Liebling zu verstecken. Sie wickelte den Hahn in ein Tuch und legte ihn in ihr Bett. Doch als sie nach dem Sinken des Wassers hingegangen war, um ihn zu holen, war er verschwunden. Offenbar hatte er, durch den Lärm verängstigt, sein schützendes Lager verlassen und war von dem ums Zelt wirbelnden Wasser mitgerissen worden.
Wir bedauerten Dawn sehr, doch es schien nur noch die eine Hoffnung zu geben, daß der kleine Hahn auf höheres Gelände geflogen war. »Aber er kann doch gar nicht fliegen! Wir haben ihm einen Flügel gestutzt«, jammerte das Kind. Da freilich sah der Fall recht hoffnungslos aus, und ich redete Dawn gut zu, mit ins Haus zu kommen und sich zu wärmen und zu trocknen.
Wäre die ganze Situation nicht so ernst gewesen, so hätte ich lachen können, als wir in die Küche kamen. Sie war übervoll, das Wohnzimmer desgleichen. Bibbernde Leute beugten sich über die Heizkörper, während Trina, selber noch triefendnaß, sich abmühte, Tee in großen Kannen für alle aufzugießen. Ich nahm Dawn mit in mein Zimmer, kleidete sie in einen meiner Schlafanzüge und packte das noch schluchzende Kind ins Bett.
Als sie es sich eben behaglich machte, hörte ich von der Küche her neuen Spektakel und Andys Stimme, sehr laut und herausfordernd: »Ich sage Ihnen doch, daß Venedig ihn nicht umgebracht hat! Die würde keiner Fliege ‘was tun. Weiß ich, woher sie den Vogel geholt hat, aber der war absolut tot, als sie ihn fand!« Mit einem unruhigen Blick auf Dawn eilte ich hinaus.
Venedig stand in der Haustür, von Wasser tropfend, aber mit still triumphierender Miene. Aus ihrem Maul hing ein jämmerliches kleines Bündel schmuddlig nasser Federn. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich zu meinem Entsetzen erkannte, daß es der vermißte Zwerghahn war. Alle standen schweigend da und warfen anklagende Blicke auf Venedig. In stolzer Ruhe schritt sie durchs Zimmer und legte ihre Last vor Andys Füße. Dann schaute sie in sein rotes Gesicht empor, klopfte mit ihrem Schwanz auf den Boden.
In tiefer Verlegenheit bückte sich Andy, um den Hahn zu betrachten, und sogleich verkündete er, erleichtert, mit erregter Stimme: »Er ist gar nicht tot. Dieser tolle Bursche von Vogel bewegt sich noch. Venedig hat ihn gerettet. Hat ihn lebendig hergebracht, ohne ihm auch nur eine Feder zu verletzen.«
Und wie lebendig der kleine Teufel war! Sein Schnabel öffnete und schloß sich protestierend, und die Knopfaugen rollten hin und her. Als Andy ihn aufhob, krächzte er schwächlich. Und schon ging die Tür meines Zimmers auf. Dawn stürmte herein und stolperte beinahe über die langen Hosenbeine des Schlafanzuges.
»Oh, mein Hähnchen! Lebendig! Ist nicht ertrunken!« rief sie. »Oh, gebt es mir, schnell!« Sie ergriff das naßweiche Bündel und drückte es verzückt gegen die Jacke meines besten Pyjamas.
»Wer hat’s hergebracht? Wer hat’s gerettet?« fragte sie, und Andy deutete stolz auf die dastehende Venedig, die beflissen dieses ganze Theater ignorierte.
Dawn schob mir den Zwerghahn in die Hände, rannte zu ihr hin und überwältigte sie fast mit ihrer herzlichen Dankbarkeit. Sie umarmte innig die >Heldin der Stunde<, die das Lob geduldig, doch ohne Begeisterung, hinnahm. Mit ihrer ganzen Haltung, der Miene grenzenloser Selbstzufriedenheit, schien Venedig sagen zu wollen, das sei doch bloß eine Kleinigkeit, gar nicht der Rede wert in einem durch und durch heroischen Leben.
Nach dem großen Malheur war es unvermeidlich, daß der Zwerghahn, warm in ein altes Handtuch verpackt — eine Vorsichtsmaßnahme, die ich verlangte — , diese Nacht bei Dawn in meinem Bett schlief. Das war kein geringes Opfer meinerseits, da ich Hühnervögel sehr wenig schätze, doch ich gab nach, weil Trina bemerkte, ich dürfte mich doch gerade jetzt nicht so >anstellen<. Der
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