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Es klopft

Es klopft

Titel: Es klopft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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bot.
    Ein Krebs war, auch wenn er tödlich endete, ein viel realerer Gegner, und die Patienten hatten dafür mehr Verständnis, ja sie akzeptierten ihn fast leichter als einen Tinnitus, bei dem man gegen ein Phantom kämpfte, ein Phantom mit großer Ausdauer und zermürbenden Kräften.
    Eigentlich hielt es Manuel für eine Schande der Medizin, dass sie bei all den Fortschritten auf den verschiedensten Gebieten beim Tinnitus nicht viel weiter gekommen war als jener Franzose, der sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts als erster ausführlich damit beschäftigt hatte und der seinen Tinnitus-Patienten z. B. empfahl, sich so oft wie möglich vor heftig knisternde Kaminfeuer zu setzen oder in eine lärmige Mühle umzuziehen, damit ihnen das Getöse in ihrem Ohr weniger auffiel.
    Eine Zeitlang hatte er sich vorgestellt, dass es möglich sein müsste, neue Haarzellen auf die Basilarmembran zu implantieren, doch diese Idee scheiterte an der Winzigkeit der Härchen. Ob die Nanotechnologie, die in den letzten Jahren derart boomte, einmal dazu in der Lage sein sollte?
    Auch Manuel hatte in erster Linie mit der Maskierung der Geräusche gearbeitet, hatte seinen Patienten Hörapparate mit Frequenzen gegeben, welche den Frequenzen der Störungen nahekamen, war im Übrigen stets pragmatisch vorgegangen und hatte keinen Lösungsansatz von vornherein verworfen. Wenn aber wieder eine Studie über eine neue Methode erschien, in der von 20 oder 30% der Patienten die Rede war, bei welchen eine deutliche Linderung eingetreten sei, und Manuel machte einen Versuch mit dieser Methode,
waren seine Patienten zuverlässig bei den 70 bis 80%, die nicht darauf ansprachen. Er fühlte sich hilflos, und wenn die einzige Botschaft des Arztes an den Patienten war, er müsse sich an das Übel gewöhnen, war das eine Kapitulation vor dem Phantom. Diese Botschaft nannte man seit einiger Zeit Retraining, und einer ihrer bekanntesten Botschafter war sein Kollege Mannhart. Vor ihm saß Manuel Ritter nun zu seiner eigenen Überraschung und wollte dessen Meinung zur Tatsache hören, dass neuerdings jemand mit der Faust an sein Innenohr hämmerte.
    Zweifellos, sagte dieser, handle es sich um einen Tinnitus, einen subjektiven, und die Plötzlichkeit, mit der er aufgetreten sei, wäre für ihn eigentlich ein Hinweis auf einen psychogenen Charakter; ob ihn nichts erschreckt habe in letzter Zeit, ein Problem, das auf einmal aufgetaucht sei, oder eines, das wieder akut geworden sei. Nein, sagte Manuel etwas ungehalten, und was denn wäre, wenn es ein solches Problem gäbe.
    »Dann, mein Lieber, müsstest du dich dringend damit beschäftigen. Ich weiß nicht, wie es in deiner Praxis ist, aber ich habe mehrere Fälle erlebt, in denen die Symptome vollständig zurückgingen, als sich der Patient seinem Lebensproblem stellte.«
    »20 bis 30%?« fragte Manuel spöttisch. »Dann bin ich bei den andern 70 bis 80. Wie meine Patienten auch immer, deshalb schick ich sie ja zu dir.«
    Ja, er habe sich, ehrlich gesagt, etwas gewundert, weshalb er ihm diesen jungen Banker überwiesen habe, so ungewöhnlich sei der Fall ja auch wieder nicht.
    »Er liebt seine Stelle«, sagte Manuel, »und er wird sie verlieren.«

    »Nicht zwingend.«
    »Meinetwegen. Zu 70 bis 80%, wie gesagt. Bei mir. Du kannst ihn vielleicht in den 20 bis 30%-Bereich lotsen. Der Patient hofft auf mich, und ich kann seine Hoffnung nicht erfüllen. So ist es, und nach dem Suizid meines Musikers ist mir der Tinnitus verleidet.«
    »Dafür kommt er jetzt zu dir.«
    »Wahrscheinlich will er sich rächen«, sagte Manuel. »Und? Was schlägst du vor?« Er versuchte ein Lächeln. »Das Büchlein ›Tinnitus-Hilfe‹ habe ich schon.«
    »Hoffentlich gelesen.«
    »Selbstverständlich. Geb ich meinen Patienten, die ich behalte, auch mit. Kein Wort dagegen.«
    »Also, da du gegen die psychologischen Aspekte offenbar resistent bist, fangen wir mit einem Cortisonstoß an. 3 x 500 mg, nach 5 Tagen 3 x 250 mg, nach 10 Tagen kommst du wieder zu mir.«
    »Na?« sagte Manuel, »ein Cortisonstoß?« Er nahm nicht gern starke Medikamente, Cortison schon gar nicht. Er verschrieb es bloß.
    »Scheint mir schweregradadaptiert«, sagte Mannhart, »und nicht aussichtslos.«
    Manuel lächelte. »Du meinst, 20 bis 30%? Gut, ich zähle auf dich. Hoffentlich läßt sich mein Innenohr damit umstimmen.«
    Falls er nicht mehr in seine Praxis zurückgehe, gebe er ihm die Packungen gleich mit, sagte Mannhart und schob sie ihm über den Tisch.

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