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Es klopft

Es klopft

Titel: Es klopft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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als Überdosis vor. Die Störche, Rehe und Waldkäuze, so schön sie gezeichnet waren, wirkten seltsam unaktuell, wahrscheinlich hingen sie hier seit der Praxiseröffnung vor 25 oder 30 Jahren. Die Sessel mit dem grünen Bezug irgendeines Lederimitats waren etwas zu speckig, und das Weiß der Wände hinter den Sesseln war auf Kopfhöhe leicht abgedunkelt. Auch dass der »Nebelspalter« noch existierte, der neben dem »Tagblatt der Stadt Zürich« und der Schwerhörigenpublikation »dezibel« auf dem Wartezimmertischchen lag, erstaunte ihn, er hatte diese Zeitschrift, die sich als satirisch ausgab, nie gemocht und hatte geglaubt, sie sei schon lange eingegangen. Seit er seine Praxis an den Zürichberg verlegt hatte, lagen bei ihm Zeitschriften wie »Schöner Wohnen«, »Animan« oder »Swissboat« auf den Regalen.
    Würde er, wenn er ihn nicht kennte, diesem Arzt trauen? Manuel nahm sich vor, sich morgen einmal wie ein Patient in sein eigenes Wartezimmer zu setzen. Sie unterschätzten wohl alle die Wichtigkeit dieses Eindrucks.
    Auch dass jeder, der aus dem Sprechzimmer trat, am offenen Warteraum vorbeikam und sah, wer dort saß, fand Manuel
unpassend, denn jetzt ging die Tür auf, und er hörte seinen Kollegen sagen: »Auf Wiedersehen, Herr Simonett.« Tatsächlich warf der Banker, der die Merkschrift »Tinnitus-Hilfe« in der Hand trug, im Abgehen einen Blick auf Manuel, grüßte ihn mit offensichtlichem Erstaunen und fragte ihn dann: »Haben Sie etwa auch eine Eisenbahn im Ohr?«
    »Nicht direkt«, sagte Manuel lächelnd und ärgerte sich sogleich über diese Antwort. Deutlicher, so schien ihm, hätte er nicht ausdrücken können, dass auch er als Patient hier war.
    »Grüß dich, Manuel.«
    »Hallo, Toni.«
    Sein Kollege Mannhart begrüßte ihn mit einem merkwürdig schwammigen Händedruck und bat ihn in sein Ordinationszimmer.
    »Du hast ihn jedenfalls nicht entmutigt«, sagte Manuel, als sie drin waren, mit einer Kopfbewegung zur Türe hin, »er macht schon wieder Scherze.«
    »Wir müssen den Verlauf abwarten«, sagte Mannhart, »ich geb dir gelegentlich Bescheid. Und was ist denn mit dir?«
    Er war etwas älter als Manuel, knapp an der Pensionsgrenze, hatte gewelltes graues Haar und eine teilnahmsvolle Dauerfalte über der Nasenwurzel.
    »Tja, was ist mit mir? Das wollte ich eigentlich dich fragen. Ich glaube, mich hat’s mit einem Tinnitus erwischt.«
    Und dann schilderte er ihm seine Symptome, zeigte ihm auch sein Audiogramm, das die bewährte Frau Weibel mit ihm gemacht hatte, und sein spezialisierter Kollege stellte ihm viele der Fragen, die Manuel seinen Patienten auch stellte, seit wann, permanent oder von Zeit zu Zeit, nur nachts,
auch tagsüber, in welchen Situationen, Veränderung bei anderer Haltung des Kopfes, Störungsgrad, schlafstörend, konzentrationsstörend, Hörsturz, Lärmtrauma, Lärmbelastung im Alltag usw.; er verharrte länger beim Punkt, ob die Schläge, wenn er sie höre, pulssynchron seien, so dass vielleicht eine Angiographie angezeigt wäre, doch die Schläge hatten nichts mit dem Puls zu tun, sie waren zu schnell, Manuel imitierte sie, indem er mit den Fingerknöcheln dreimal auf die Tischplatte schlug, sagte, nach der Qualität der Töne gefragt, es klinge aber eher etwas heller, so, als schlüge man gegen eine sehr dicke Fensterscheibe.
    Ob ihm denn zu diesem Geräusch etwas in den Sinn komme, fragte sein Kollege, und die Dauerfalte auf seiner Stirn vertiefte sich zur Furche. Selbstverständlich kam Manuel etwas in den Sinn, und ebenso selbstverständlich sagte er seinem Kollegen nichts davon, denn Schläge an eine Fensterscheibe hingen aufs Engste mit seinem Flecken im Reinheft zusammen, der niemanden etwas anging, und auch als jetzt die ganze psychologische Litanei kam mit Stress, Belastung, unbewältigten Problemen und unbestimmten oder bestimmten Ängsten, blieb Manuel, der seine Patienten immer ermahnte, diese Fragen ehrlich zu beantworten, so vage und ablehnend, als es irgendwie ging.
    Sein eigenes Interesse am Phänomen des Tinnitus hatte erheblich nachgelassen, als sich einer seiner Patienten, ein Musiker, das Leben nahm, weil er die tägliche und nächtliche Folter durch den Lärm in seinen Ohren nicht mehr aushielt. Dieser und andere schwere Fälle hatten Manuel so zugesetzt, dass er begonnen hatte, Tinnitus-Patienten weiterzuweisen, bevor er sich mit ihnen auf eine lang andauernde Therapie
einließ, von der er zum vornherein wusste, dass sie kaum Aussicht auf Heilung

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